Mystik
und
Kunst.
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der mystischen Schule in vielen Wendungen wiederholen.
Aehnlich aber musste es sich, wenn auch in vermindertem
Grade , in Frankreich verhalten; von dem Vordringen der mysti-
sehen Lehre durch Flandern in die Nordprovinzen giebt uns
Gerson unwillkürliches Zeugniss, und seine eigene, von Wahrer
Frömmigkeit dturchwärnxte mystische Theologie, obgleich nur
für Gelehrte bestimmt, musste durch seine zahlreichen Zuhörer
in das Volk dringen und auch hier eine der Mystik verwandte
Steigerunig andächtiger Gefühle erzeugen, Für England kann
ich dies nicht im Einzelnen nachweisen; der Kriegsruhm und die
praktischen Aufgaben -des Lebens mochten hier noch zer-
Streußlldßr Wirken, aber WikleFs Auftreten und der National-
charakter des Volkes bürgen dafür, dass die dem Jahrhundert
entsprechende Form lebendigerer Frömmigkeit auch hier Jünger
gefunden habe.
Denn das War in der That die Mystik; nicht eine verein-
zelte, zufällige, bloss deutsche, oder gar nur von einigen grü-
belnden Köpfen ausgedachte Theorie, sondern eine und zwar die
stärkste, allerdings mit subjectiver und leidenschaftlicher Energie
hervorbrcchende Aeusserung der allgemeinen, über das ganze
Abendland verbreiteten religiösen Stimmung. Dass sienur in
Deutschland eine völlig ausgeprägte Gestalt erhielt, erklärt sich
theils dadurch, dass die geistliche Noth hier ihren Gipfel er-
reichte, theils durch die Anlage unseres Volkes, und dass sie
auch hier nicht die ganze Nation ergriff, sondern nur bestimmte,
von einzelnen Persönlichkeiten geleitete Kreise, liegt in der
Natur der Sache. Aber eben dadurch gewinnen diese an sich
und im Vergleich mit den Helden der grossen Weltbühne dun-
kelen und unscheinbaren Gestalten für uns eine grosse Bedeu-
tung; sie sind die Repräsentanten der geistigen Bewegung; das
religiöse Geheimniss, welches , sonst von dem äusseren 'l'reiben
der Welt überwuchert, sich uns nur durch seine Wirkungen im
Grossen offenbart, ist. hier verkörpert zu Tage getreten, wir
können den geheimsten Triebfedern bis in ihre innerste Werk-
stätte nachspüren.
Und dies gilt nicht blos für die Geschichte der Sitten im
Allgemeinen, sondern ganz besonders für die Kunst, deren M0-