Entartungen
der
Mystik.
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unter der Zucht des schulmässigen Denkens 1') stehen, ist er von
äusserstem Misstrauen erfüllt. Eine grosse Zahl seiner Bücher
sind dem Kampfe gegen religiöse Schwärmereien gewidmet, und
mit unseren deutschen Mystikern war er so Wenig einver-
standen, dass er sogar den mildesten derselben, den edeln Jo-
hann Ruysbroek, in einer eigenen Gegenschrift heftig anfocht.
Jedenfalls griß" das mystische Element in Frankreich nicht tief in
das Volksleben ein; die Beispiele, welche Gerson anführt,
scheinen entweder nur die Folge klösterlicher Ueberspannung,
oder sie spielen in belgischen Städten, also in der Nähe von
Deutschland. Noch weniger können wir in England Gestalten
aufzeigen, welche denen der deutschen Gottesfreunde gleichen;
man kannte hier nur die verständigen Aeusserungen herge-
brachter kirchlicher Frömmigkeit oder wilde und excentrische
Ketzereien.
Aber freilich sind auch diese Extreme nicht ohne Ver-
wandtschaft mit der Mystik; alle jene Begharden und Loll-
harden, Brüder und Schwestern des freien Geistes, Adamiten,
Luciferianer und wie diese Ketzer sonst genannt werden ist),
welche uns nur aus den Schritten ihrer Gegner oder durch die
gegen sie ergangenen Verfolgungen bekannt sind, stützen sich
auf entstellte Sätze der Mystiker, auf die Lehre von der Ledig-
keit, durch die sie sich zu wahnsinnigem Hochmuthe steigerten,
oder auf die von der Einigung mit Gott, vermöge welcher sie all,
ihr Thun für göttlich und sich für berechtigt hielten, alle sitt-
lichen Schranken zu überschreiten. Auch die Geisseler, welche
um die Mitte des Jahrhunderts während der Seuchen oder nach
grossen Unglücksfällen das Land zu Tausenden durchzogen, um
das Schauspiel ihrer blutigen Bussübungen an vielen Orten zu
wiederholen, sangen Lieder, in welchen die Sprache und Ge-
Ü In der dialogisch verfassten Schrift: De consolatione theologiae, am;-
Woflßt er dem Vertheidiger der mystischen Frömmigkeit (den er geradezu;
Monacus nennt): Plurimos, crede mihi, fefellit nimia sentimentorum hujus-
modi comlllisitio seu cupido: hoc in Turlepinis etlBegardis, hoc in quibus-
dam devotis non secundum scientiam expermm est, qui deliramenta
cordis sui pro Dei sentimentis amplexantes turpiter erraverunt.
Gieseler, Kirchengeschichte II ,
122.