Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

Macht 
der 
Phantasie. 
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bereit, Bild und Sache zu vertauschen, kschwankende, subjec- 
tive Vorstellungen und Phantasiebilder statt voller Wahrheit 
zu nehmen. 
Die Kunstgeschichte hat ein Interesse, die Visionen der 
Mystiker auch in formeller Beziehung näher zu betrachten. 
Zuerst fällt es auf, dass wir niemals schreckhafte, tnigeheuer- 
liche Gestalten antreffen; die Apokalypse, mit der sich ähnlich 
gestimmte Gemüther in früherer und späterer Zeit so viel be- 
schäftigt haben, deren Anwendung auf die damaligen „sorg- 
liehen" Zeiten so nahe gelegen hätte, scheint ihnen keinen Ein- 
druck gemacht zu haben; ihre Symbolik ist einfacher, ihre Bilder 
sind sanfter. Selbst die bösen Geister treten mässig auf, höch- 
stens melden sie sich durch plötzliche Finsterniss und Wind- 
stösse, denen dann aber, wenn die Gottesfreunde dabei ruhig 
und ergeben bleiben, bald ein hellleuchtendes Licht und Engels- 
stimmen folgen. Oder sie zeigen sich in Gestalt gar viel herr- 
licher Frauen in köstlichen goldenen Gewändern, welche mit 
blöden, niedergeschlngenen Augen und in gar demüthiger Ge- 
behrde sich als zu ihnen abgesandt vorstellen, dann aber der 
Beschwörung weichen i). Auch die Schrecken des jüngsten 
Tages, des Fegefeuer-s, der Hölle, spielen in ihrer Phantasie 
keine bedeutende Rolle. Mit dem Leiden Christi sind ihre Ge- 
danken zwar sehr vertraut, aber sie hüten sich, es in ihren Vi- 
sionen anszumalen, darin zu schwelgen. Gerade Suso, der sich 
in Erfindung der grausamsteil, selbst widerlichen Bussqualen 
übte, hatte nur die lieblichsten Erscheinungen; auf seiner Brust, 
wo er den Namen Jesus in das Fleisch eingeschnitten hatte, sah 
er im Traume ein goldenes, von edlen Steinen leuchtendes Kreuz 
und dabei seinen Leib ob dem Herzen so lauter als Krystall, dass 
er darin die ewige Weisheit in anmuthiger Gestalt thronend er- 
kennen konnte. Blumen kommen oft in seinen Visionen vor, 
besonders Rosen, und es ergiebt sich, dass diese gerade das 
Symbol zeitlichen Leidens sind. Er hat oft Erscheinungen Ver- 
storbener, aber keine in schrecklicher Weise, die meisten in 
lichtreicher, überschwenglicher Klarheit, in weissem Gewande. 
Und ähnlich ist es auch bei den Anderen; alle ihre Visionen und 
 Schmidt, Gottesfreunde, S. 153, 160. 
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