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Die
deutschen
Mystiker.
und lässt sie dabei gelegentlich dem Beichtig'er gegenüber auf-
treten; daraus aber entwickelt sich das Bild ihres weiteren Fort-
schreitens, ihrer Schicksale in ganz dramatischer Weise. Er
lässt sie in Demuth und Isleiligung wachsen, ilach ihren Leiden,
nach ihren VVanderungen immer wieder zurückkehren, endlich
in ihren Verzücknngeil den Himmel sehen, so dass sie nun den
Lehrer weit überflügelt hat, und ihm von den höchsten Dingen
Auskunft geben kann. Darlehen geht zwar die Aufzählung der
abslracten Begriffe fort, aber sie bilden nur Ruhepunkte, gleich-
sam die Zivischenacte in dem Drama, welches das [Iauptinter-
esse in Anspruch nimmt, und dessen Interlocutoren, unter denen
er anfangs sich und sein Beichtkiml selbst gemeint zu haben
scheint, späterhiil offenbar den Gegensatz der gemeinen, uner-
leuchteten Doctrin gegen die mystische Anschauung repräsen-
tiren. Man sieht, wie mächtig die Einbildungskraift in dieser
Schule ist, da sie selbst über ihren strengsten Meister so grosse
Gewalt übt. Noch viel stärker ist sie dann bei dem rittcrbür-
tigen Snso, der in die Erzählung seiner geistigen Kämpfe stets
den Ermunterungsruf: YVaffen! und auch sonst Anspielungen
auf ritterliche Verhältnisse einmiseht, der die göttliche TVeisheit
völlig in der WVeise der Minnesänger feiert, bei dem sich eine
Vision an die andere reiht. Kann man sich wundern, wenn bei
dieser Gewohnheit sowohl bildlicher Sprache als bildlicher Of-
fenbarungen beides sich mischte, wenn Männer wie Nicolaus
von Basel, welche Einsicht und Beruf zur Leitung der Anderen
zu haben glaubten, indem sie ihre Rathsehläge in Bilder klei-
deten, selbst nicht mehr wussten, 0b sie 'l'räume oder Allegorien
vortrugen? Es war das nicht sowohl ein ltlangel an eigener
Wahrhaftigkeit, sondern ein der ganzen Zeit gemeinsamer
Mangel des Begriffes objectiver Wahrheit, der wieder mit der
grossen Lebendigkeit der Phantasie zusammenhängt. Man war,
wie in der conventionellen Ritterlichkeit und in der Scheingelehr-
samkeit der Scholastik, überall mit Halbwahrem zufrieden, stets
1'] Der freilich auch sonst im vierzehnten Jahrhundert als ein Ruf des
Erschreckens und nach Hiilfe vorkommt, z. B. als Ausruf der thöligten Jung-
frauen im Drama. Vergl. Bechstein, das grosse thüringische Mysterium oder
das geistliche Spiel von den kl. und th. Jungfrauen, Halle 1855.