Die
Bildnerschule
V01]
Tournay.
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besten deutschen Madonnenbiltler dieser Zeit, aber das liebliche
Antlitz ist hier belebter und individueller. Deutlicher noch tritt
ein Streben nach naturwahrem und wirkungsvollem Ausdrucke
an den auf der einen Seite der Vorhalle erhaltenen Propheten und
besonders an den Reliefgestalten hervor, welche an den Pfeilern
des Portals einzeln stehend, aber mit dramatischer Beziehung
auf einander die Geschichte der Schöpfung, dann (unter dem
Bilde der Jungfrau) des Sündenfalles, und endlich der Vertrei-
bung aus dem Paradiese darstellen. Es sind Figiirchen von noch
nicht halber Lebensgrösse und mit manchen Schwächen des vier-
zehnten Jahrhunderts, aber dessen ungeachtet von überraschender
Lebendigkeit und Empfindung. Eva mit äusserst lieblichem
Kopfe zeigt sich immer in naiver, dem Moment entsprechender
Bewegung, Adam mit ziemlich richtig und kräftig gebildetem
Körper und fast portraitartig individuellem Kopfe gewöhnlich fort-
schreitend im Halbprolil; der Engel der Vertreibung endlich, nach
alter Weise in der Vorderansicht gegeben, ist wenigstens im
Motiv grossartig, und auch das verdient bemerkt zu werden, dass
die Schlange am Baume des Sündenfalles hier schon einen, an-
scheinenduweiblichen, Menschenkopf hat. Die weiteren Fort-
schritte der Schule können wir dann an einer Reihe von Grab-
steinen beobachten, Welche theils in den Kirchen von 'l'0urnay
zerstreut, theils von einem einheimischen Kunstfreunde, Herrn
Dumortier, gesammelt sind, und von denen nur zwei oder drei
dem vierzehnten, die meisten dem fünfzehnten Jahrhundert ange-
hören, wo wir sie bis zum Jahre 1438 verfolgen können?) Ob-
gleich sie hiernach einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren um-
fassen, sind sie einander sehr ähnlich und wie nach einem be-
stimmten Typus gearbeitet. Sie sind nämlich alle von geringer
Höhe und bedeutend grösserer nach Maassgabe der Gegenstände
Wachsender Breite, und sehr tief ausgearbeitet, so dass die Fi-
gürchen in starkem Relief auf der glatten Fläche vertreten, Welche
oben stets durch eine Reihe gothischer Baldachine von Wieder-
i) Bei einer verhältnissmässig grossen Anzahl ist nur das Jahrhundert
MCCCC angegeben und die für die weiteren Zeichen gelassene Lücke unaus-
gefüllt geblieben; die Bestellung der Grabsteine bei dem Leben der Bestatteten
war also sehr gewöhnlich.
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