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Niederländische
Kunst.
vollerer Form, als wir sie wenigstens um die Zeit des ersten
Grabmales in Deutschland finden. Ist dieses also wirklich bald
nach dem Tode des Bestatteten gearbeitet, so haben wir hier den
Beweis nicht blos einer bedeutenden künstlerischen Meisterschaft,
sondern auch den einer von der deutschen und französischen
Kunst abweichenden Tendenz auf grössere Naturwahrheit und
eine dadurch bedingte tiefere Wirkung. Uebrigens ist die spätere
Platte, bei aller Aehnlichkeit, von grösserer Meisterschaft als die
frühere, so dass man ein Fortschreiten in derselben Richtung
erkenntg].
Auch die Werke der Steinsculptur dieser Epoche sind in
Holland fast ganz verschwunden und in Belgien selten. Nur
'l'ournay, welches zwar damals politisch noch zu Frankreich,
aber doch durch Stammesverwarldtschaft zu den Niederlanden
gehörte, macht eine günstige und wichtige Ausnahme, indem es
noch eine bedeutende Zahl früherer Sculpturen und zwar von so
entschiedener Eigenthümlichkeit besitzt, dass man sie einer eignen
Bildnerschule zuschreiben darf M) , welche hier durch die gran-
diosen Bauten und durch die Vortrefflichkeit des in Tournay ge-
brochenen Steines günstige Gelegenheit zu ihrer Uebung fand.
Die ältesten Werke dieser Schule aus gegenwärtiger Epoche
finden wir unter dem reichen plastischen Schmucke in der Vor.
halle der Kathedrale. Die obere Statuenreihe gehört zwar erst
dem siebenzehnten, eine Folge von Reliefs darunter dem sechs-
zehnten Jahrhundert an, aber die wunderschöne kolossale Ma-
donna am Mittelpfeiler stammt mit Ausnahme ihres wahrschein-
lich später ergänzten Kindes unverkennbar aus dem vierzehnten
Jahrhundert. Die Weiche Biegung des schlanken Körpers und
die langen, stylvoll aufgelösten Gewandlixiien gleichen denen der
a) Dass Semper in seinem Werke: Der Styl eine kleine, aber gelungene
Abbildung dieser Platte gegeben hat, ist schon oben angeführt. Die Verschie-
denheit der Arbeit von der auf den deutschen Platten dieser Art ist übrigens
augenscheinlich und auch auf der älteren Platte der Grund ganz abweichend
von den dort beliebten Mustern.
Waagen hat das Verdienst, zuerst auf diese Bildnerschule aufmerksam
gemacht zu haben. Sein Aufsatz (Kunstbl. 1848, Nro. 1) schildert jedoch nur
die von Herrn Dumortier in Tournay aus aufgehobenen Kirchen gesammelten
Grabsteine, nicht die kirchlichen Sculpturen.