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Religiöse
Zustände.
Zeitalter charakteristische und auch für unsere Zwecke höchst
wichtige Erscheinung ausführlicher Betrachtung bedürfen. Diese
Gottesfreuilde bildeten weder eine Secte, noch einen abgeschlos-
senen Orden, hatten keine gesetzliche Ordnung, keine Oberen;
aber sie kannten sich durch ganz Deutschland, standen durch
Briefe und persönliche Besuche in stetem Verkehr, und hielten
es für rathsam, sich der Leitung geistig Erfahrener zu unter-
wiverfenie). Ihre sittlich-religiösen Anforderungen gingen Weit
über das Maass kirchlicher Moral und Pietät hinaus, aber sie
waren treue Söhne der Kirche, hielten fest an ihren Dogmen und
Gebräuchen. Was sie verband, war mehr eine Gefühlsrichtung
als eine Lehre, aber sie hatten doch bestimmte, sehr eigcnthüm-
liche Gedanken, welche den Mittelpunkt ihrer Ansichten bildeten
und ihnen höher standen, als die verbreitete kirchliche Doctrin.
Die Quelle dieser Gedanken können wir weit: hinauf verfolgen,
bis zu den Kirchenvätern, nur dass sie hier ein verborgener Be-
standtheil der ganzen Doctrin sind, der erst durch die Schärfe
des scholastischeu Denkens abgelöst und selbstständig gemacht
wurde. Es handelte sich um die Fähigkeit der Seele, sich zu
Gott zu erheben oder seines Ilerabsteigens gewürdigt zu wer-
den. Während nun die Mehrzahl der Scholastikei- versuchte,
wie weit sie durch den Gebrauch ihrer Vernunft mit Gottes
Gnade kommen könnte, fanden sich Andere, denen dies nicht
genügte, die aber annahmen, dass die Seele durch aufsteigende
Erhebung in geordnetem Denken und durch Zurückziehen aus
den sinnlichen Dingen, der Gnade zugänglich und so der An-
schauung Gottes und damit der höchsten Seligkeit theilhaft
werden könne. Der Erste, welcher diese Ansicht aufstellte, ein
Deutscher, aber nach dem Pariser Kloster, in welchem er lebte,
Hugo von St. Victor genannt (1- 1141), lässt es dahin ge-
stellt, ob diese höchste Stufe schon hier, oder nur im ewigen
Leben erreicht werden könne, seine Schüler, demselben Kloster
angehörig und daher auch wohl Victoriner genannt, sprechen
Ü Tauier: Darnmb wäre es gar sivher, dass die Mßnscheln, die der
Wahrheit gern lebten, hätten einen Gottesfreund, dem sie sich unterwürfen
und dass er sie richtet nach Gottes Geist. Und so (ifter. Vgl. Gieseler
a a. O. 117, Not. U.