Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

Naturalistische 
Fortschritte. 
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religiösen Gefühls, welche an der Gränze des vierzehnten und 
fünfzehnten Jahrhunderts begann und sich in derzeit der grossen 
Concilien feststellte. Schon die nächste, jener älteren folgende 
künstlerische Generation empfing dadurch eine ganz andere Auf- 
fassung. Die strenge oder naive, mehr aus subjectiver Empfin- 
dung sehöpfende ldealität entsprach der sehnsüchtig strebenden 
oder kindlich freudigen Andacht ihrer Zeit; die ruhige, mehr 
kirchliche Religiosität, welche jetzt aufkam und sich mit der 
Richtung auf behaglichen, sinnlichen Lebensgenuss so wohl ver- 
trug, verlangte volleres sinnliches Leben, grössere Naturwahr- 
heit, derbere, allgemein verständliche Züge; sie brauchte, um in 
den Kirchen zu wirken, grössere Dimensionen, und wollte ihre 
Heiligen zwar wohl mit Anmuth , aber auch mit der Fülle irdi- 
scher Kraft und mit dem Glanze weltlicher Hoheit umgeben 
sehen. Natürlich wurden diese Anforderungen nicht" sogleich von 
allen und mit gleicher Tiefe verstanden, aber allmälig bildete sich 
doch ein gemeinsames Streben nach dem noch unbekannten Ziele. 
Eine grosse Zahl noch auf uns gekommener Bilder, offenbar von 
vielen verschiedenen Händen und in einem ziemlich umfassenden 
Zeitraume entstanden, geben davon Zeugniss. Die Abstammung 
von der Schule des Meisters Wilhelm ist nicht zu verkennen; 
gewisse typische Züge, Eigenthümlichkeiteil der Anschauungs- 
weise, der Färbung und sonstiger 'l'echnik erhalten sich noch 
lange, aber dabei finden sich doch zahlreiche Abweichungen von 
dem bisherigen XVege. Die Verhältnisse der Figuren werden 
statt lang und schmächtig eher kurz und gedrungen, das Oval 
des Gesichtes nähert sich dem Kreise, Arme und Hände werden 
naturgelnässer, die Glieder voller, die Modellirung, zwar noch 
etwas allgemein und unbestimmt, zeigt doch deutlicheres Gefühl 
für die Körperlichkeit. Die Haltung der Gestalten nimmt eine be- 
hagliche Breite an, namentlich sind die Beine, die früher meist 
möglichst zusammengehalten und von dem langen Gewande be- 
deckt wurden, gern auseinandergestellt, selbst gespreizt. Die 
Bewegungen haben den Charakter des schüchternen und Zu- 
rückgehaltenen verloren, sind dreister und freier, wobei denn 
freilich und selbst bei den ausgezeichnetesten Meistern Ueber- 
treihungen, eckige und naturwidrige Formen vorkommen. Die 

	        
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