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Zweites
Kapitel.
Religiöse
Zustände.
Man darf nicht glauben, dass der Verfall der Kirche von einer
Abnahme der Frömmigkeit verursacht oder begleitet worden; er
fand vielmehr schon bei seinem Beginne eine Wachsende Innig-
keit des religiösen Gefühls vor und steigerte dieselbe immer
mehr. Die zunehmende Verstandesbildung gab schärfere Beob-
achtung, das leidenschaftlich bewegte Leben grössere WVärme
und XVeit-hheit des Gefühls; dem festlichen Rausche folgten
Stunden der Einsamkeit. in denen das Gewissen lauter sprach
und die Sehnsucht nach Sühne und Erlösung erwachte. Freilich
war die Sittenverderbniss der Geistlichkeit eine offenkundige
'l'hatsache und ein Gegenstand des Aergernisses; aber dieses
Schauspiel ängstigte die Gemüther nur noch stärker , je mehr die
Kirche gefährdet erschien, desto fester klammerte man sich an
sie an; der Glaube der Völker stützte und trug sie , Während sie
selbst sich aufzugeben schien. Mehr als je drängte sich die
Sleuge zu den Altären, Zahl und Pracht der kirchlichen Stif-
tungen bezeugten die zunehmende Opferwilligkeit aller Stände.
'l'ieferen Gemüthern genügte aber diese äusserliche Andacht
nicht; ernste Männer beschäftigten sich eifrig mit dem Gedanken
gänzlicher Reform der Kirchenverfassung, andere gingen weiter.
YViirde eine solche Reform die verderbte WVelt hergestellt
haben? Wenn immer aufs Neue und immer vergeblich Schre-
cken des Todes das lärmende Treiben des Tages unterbrachcn,
wenn Seuchen die Städte entvölkerten, Krieg und Zwietracht,
Hungersnoth und Erdbeben wütheten, Wtlrßll ßS Ilißlli Müllh-
stimmen des göttlichen Gerichts für jeden Einzelnen? SOlliE
man da nicht glauben, dass Gott nicht blos die Kirche, sondern