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Miniaturen.
beiden ziemlich gleichzeitigen, dem Ende des vierzehnten und
dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zuzuschreibenden
Fällen besteht die Arbeit in einfachen, in der flüssigen Linienfüh-
rung dieser Epoche gezeichneten, leicht colorirten Umrissen,
welche indessen ein günstiges Zeugniss für die grosse Praxis
und Geschicklichkeit dieser Maler, die gewiss nicht ersten Ranges
Waren, und zugleich für den Geschmack der Besitzer ablegen,
welche einen solchen fast farblosen Wandschmuck geistigen In-
halts einem derben Anstrich in glänzender Farbe vorzogen. Ohne
Zweifel werden die Wandgemälde in den Schlössern der Kö-
nige von Frankreich und England, von denen wir später zu
sprechen haben, prachtvoller, mit Gold und leuchtenden Farben
ausgeführt, vielleicht auch von anmuthigerem Schwunge dei-
Linie gewesen sein, aber im Wesentlichen waren sie doch, Wie
die Beschreibungen vermuthen lassen und einzelne Ueberreste
bestätigen, desselben Geistes, mehr auf Zierlichkeit und leichten
Reiz, als auf Tiefe der Empfindung gerichtet, und gewiss nicht
den Tafelmalereien gleichzustellen. Auch unter den wenigen
Ueberresten kirchlicher Wandmalerei, aus der zweiten Hälfte
dieser Epoche ist keine ein Kunstwerk, welches auf die ge-
sammte Knnstentwickelung in geistiger oder technischer Bezie-
hung einen erheblichen Einfluss gehabt haben dürfte, so dass
diese einst vornehmste Gattung offenbar von der jüngeren
Schwester überflügelt War.
Dagegen erhielt sich die Miniaturmalerei nicht nur auf
ihrer früheren Höhe, sondern stieg noch bedeutend, und trug,
wenn sie auch nicht mehr wie bisher die ausschliessliche Schule
der Malerei bildete, doch Wesentlich zur weiteren Förderung der-
selben bei. Auch jetzt noch, wie früher, unterscheiden sich die
Andachtsbücher, bei denen es mehr auf Pracht und Luxus ankam,
von den historischen oder poetischen Werken, wo die Illustration
neue, wenig oder doch nicht so allgemein bekannte Gegenstände
erläutern und versinnlichen sollte, indessen wurden jetzt die An-
forderungen in beiden Beziehungen gewaltig gesteigert. Nament-
lich wuchs die Zahl der zu illustrirenden Werke der zweiten
Klasse von Tage zu Tage. Die Zeiten, WO die Ritter die Zumu-
thung der Buchstabenkenntuiss als etwas Unmännliches, nur