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Einleitung.
Schriftsteller selten im Zusammenhange, sondern haschte nur
nach einzelnen Sätzen, die man den beabsichtigten Schlüssen
unterlegen konnte. Da aber diese Autoritäten auch wohl ein-
ander widersprachen, so bedurfte man einer höchsten entschei-
denden Autorität, zu welcher sich niemand mehr eignete, als
Aristoteles, sowohl durch seinen alten Ruhm als durch seine
zahlreichen Schriften und durch die Menge thatsächlichen Stoffes,
den er verarbeitet. Indessen liess man sich auch nicht nehmen,
andere berühmte alte Schriftsteller zu citiren, und da alle diese
Autoritäten zuletzt denn doch nicht unfehlbar waren, gewöhnte
man sich mehr und mehr daran, das Gewicht der Argumente
durch ihre Menge zu ersetzen und die Citate und Autoritäten
möglichst zu häufen, um dadurch den Schein allseitiger Zustim-
mung zu dem behaupteten Satze hervorzubringexi. So kam ge-
rade in dieser Zeit, WO sich im Volksliede und in der An-
schauung der Laien das Gefühl frischer und kräftiger regte, in
der Wissenschaft und in Allem, was irgend mit ihr zusammen-
hing, die Gewohnheit der hohlsten Weitschsveifigkeit und Tro-
ckenheit auf. Es ist fast unglaublich, wie Weit man darin ging.
Der Magistrat zu Berlin fängt eine Polizeiverordnung über den
Fleischhandel der Juden damit an, dass er Aristoteles „im ersten
Buche der Städteregierung" zum Beweise der grossen Wahrheit
citirt, dass der Mensch unter allen 'l'hieren das vornehmste sei,
und König Karl V. von Frankreich, in einem Hausgesetze vom
Jahr 1374, beruft sich, um die Bestimmung des Grossjährig-
keitstermines seiner Nachkommen zu begründen, nicht blos auf
eine stattliche Reihe alttestamentarischer, macedonischer und
fränkischer Könige, sondern schliesslich auf einen Vers aus der
Liebeskunst des Ovid. Hier ist diese Sucht antiker Citate nur
eine unschuldige Geschmacklosigkeit, in anderen Fällen aber
konnte sie auch leicht gemissbraucht werden, um durch Anwen-
dung antiker Begriffe auf christlich-germanische Verhältnisse
das moralische Gefühl zu verwirren und abzustumpfen. Was
man mit dieser unklaren Gelehrsamkeit Wagen konnte, zeigt vor
Allem die berüchtigte Rede, in welcher im Jahre 1408 der
Doctor der 'l'hcol0gie, Jean Petit, zu Paris vor allem Volke mit
Zwölf, zur Ehre der Apostel aufgestellten Gründen und mit zahl-