Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

erständniss 
des 
Körpers. 
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deckte die Widersprüche derselben auf und gab Erfahrungen und 
Anschauungen, Welche auch der Malerei zu Gute kamen. Aber 
für die Plastik selbst waren diese Fortschritte zunächst nur ein 
zweideutiges Geschenk; was sie im Einzelnen an richtiger Form 
und an Lebenswahrheit gewann, verlor sie an stylmässiger Hal- 
tung. Mit den künstlerischen Traditionen der vorigen Epoche 
liess sich dieser beginnende Naturalismus nicht vereinigen, und 
die Motive, für welche die Gegenwart Sinn und Auge hatte und 
welche sie aus der Natur aufnahm, waren malerische, nicht 
plastische. Die Plastik ist auf eine gesunde Aeusserlichkeit an- 
gewiesen, nicht auf Verhältnisse wie die gegenwärtigen, wo das 
Gemüth bei der Auflösung der allgemeinen Bande in seiner Inner- 
lichkeit Rettung sucht. Ueberschtvengliche Empfindung, sehn- 
süchtige Hingebung, verschmelzende Liebe vermag sie nicht aus- 
zudrücken, ihre feste Form giebt diesen gesteigerten Gefühlen 
den Charakter des Bleibenden und Körperlichen, durch den sie 
entweder eine sinnliche 'l'riibung erleiden oder als Affectation, als 
unwahres Festhalten einer vorübergehenden Stimmung erscheinen. 
Grade in der Sculptur erinnert daher die iibermässige Schlankheit, 
die weichliche Biegung der Körper, die gesuchte Haltung der 
Hände, die siissliche Neigung des Kopfes mehr an höiische Ueber- 
treibinig ritterlicher Sitte, als an die wahre Liebeswärme und 
Innigkcit, die sich auf religiösem Gebiete und im Volke so schön 
und liebenswerth äusserte. Das Wachsende Naturverständniss 
milderte nun zwar diese Uebertreibungeil, wirkte aber in anderer 
Beziehung stylistisch verwirrend, Weil es mehr auf das Portrait- 
artige und Zufällige, als auf das Gesetzliche der Natur, mehr auf 
weiche, als auf kräftige Aeusserungen gerichtet war. 
Dies hing damit zusammen, dass die Stimmung der Zeit die 
Plastik auch in Beziehung auf ihre Gegenstände beschränkte. 
Die symbolische Denkweise der vorigen Epoche, welche Natur 
und Offenbarung, so weit sie sie verstand, in grossartigem Ueber- 
blicke umfasste, hatte in ihren tiefsinnigeim, wenn auch scho- 
lastisch-abstracten Aufgaben den Bildnern vielfache -poetische 
Anregungen und die Gelegenheit zu mannigfaltigen Charakter- 
bildungen gegeben; die jetzige Religiosität, indem sie sich mehr 
und mehr von dem gelehrten Wissen schied, verlangte von der
	        
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