Verhältniss
Natur.
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genden Füsse fallen, lassen nur schwache Andeutungen des
Knochenbaues erkennen, mit dessen Festigkeit jene Biegungen
schwer zu vereinigen sind. Die Arme sind meistens zu kurz, die
Hände lang und von absichtlicher Zierlichkeit, die Gesichter re-
gelmässige Ovale mit kleinem Munde, feiner Nase, bald grossen
runden, bald geschlitzten halbgesehlossenen Augen, deren äussere
XVinkel oft tiefer liegen wie die inneren. Der Ausdruck umfasst
nur eine kleine Zahl verschiedener Stimmungen und Empfindun-
gen, und ist bald übertrieben, bald schwach und unbestimmt,
mehr conventionell als Wahr und mehr durch die Bewegungen
des Körpers als durch die Mienen des Gesichts gegeben. Die
Haltung ist oft befangen und steif, die Linien sind, besonders bei
der Darstellung leidenschaftlicher Gefühle, bald hart in scharfen
Ecken gebrochen, bald weichlich gebogen.
Der Fortschritt der jetzigen gegen die frühere rein architek-
tonische Kunst ist daher keinesweges ein unbedingter; die ein-
fache Reinheit und Festigkeit der Umrisse, die Schönheit der
Linien und Verhältnisse, die ruhige Ilarmonie der Erscheinung,
welche den Statueugruppen und Wandgemälden oft ungeachtet
der mangelhaften Belebung einen hohen XVerth verlieh, ist nicht
mehr völlig erhalten, während doch das Naturalistische noch
nicht so weit ausgebildet ist, um ein modernes Auge zu befrie-
digen. Dazu kommt noch eine sehr viel grössere Ungleichheit
der Arbeiten, welche mit der veränderten Art des Betriebes zu-
sammenhäilgt. So lange die darstellende Kunst in den Klöstern,
den Sitzen der Gelehrsamkeit, betrieben wurde, standen alle
Künste unter sich und mit den höchsten geistigen Anschauungen
der Zeit im innigsten Verkehre; auch in der vorigen Epoche, als
sie schon in die Hände zünftiger Laien übergegangen waren,
hatten sie doch ihre Stätte in den Bauhütten der Kathedralen oder
grosser Stifter, wo die begabtesten Meister zusammentrafen und
'l'heilnahme und Rath von den begabtesten und für die Kunst
empfäuglichsten Geistlichen erhielten. Dies alles hörte jetzt auf;
das ausgebildete Zunftwesen lähmte den Verkehr der Meister
mit den gelehrten Vertretern der Kirche und trennte die verschie-
denen Kunstzweige. Können wir selbst an der Architektur wahr-
nehmen, wie jeder Bauhandwerker für sich und ohne genügende
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