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Deutsche
Gothik.
wöhnlich und das Mittelschiff nur mit niedrigen Fenstern her-
überragt. Das Verhältniss der hohen dreiseitig geschlossenen
Kapellen zu dem ebenfalls nur dreiseitig geschlossenen Chore
ist durchaus unschön und die Ausführung so flach und bedeu-
tungslos, dass man kaum begreift, wie die architektonische Or-
namentik so zurück bleiben konnte, Während die ungefähr gleich-
zeitigen Statuen am südlichen Seitenportale zum 'l'heil wirklich
von ausserordentlicher Schönheit sind. In allen südlichen Pro-
vinzen Deutschlands bemerken die Localforscher, dass gothische
Kirchen des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts in über-
wiegender, solche des dreizehnten und vierzehnten aber in sehr
geringer Zahl vorkommen. Sie suchen die Ursache zum Theil
in den Unfällen des vierzehnten Jahrhunderts, etwa in den Fehden
der schwäbischen Städte gegen Fürsten und Ritter, theils darin,
dass man erst im fünfzehnten Jahrhunderte bei gewachsener
Bevölkerung das Unzulängliche der älteren Kirchen gefühlt habe,
Allein Ulm baute ungeachtet jener Fehden, die anderen Gegenden
Deutschlands hatten während derselben Zeit wenn auch Anderes,
doch nicht weniger zu leiden, und dass man die Enge der Kir-
chen nicht empfand, zeigt eben den Mangel an Baulust. Ehe,-
könnte man dem Mysticismus und seiner Abneigung gegen den
vermeintlichen Hochmuth stattlicher Bauteil die Schuld geben,
da er in diesen Gegenden vorzugsweise Anhänger besass, allein
die Hauptsache ist Wohl, dass der schwäbische Stamm und im
geringeren Maasse auch die übrigen süddeutschen Stämme mehr
poetische und bildnerische, als architektonische Neigung haben,
und dass daher ihre Baulust erst im Gefolge des weiteren Auf-
blühens der Bildkunst erwachte. In der vorigen Epoche hatte
man sich meistens mit ungewölbten, auf schlichten achteckigerl
Pfeilern ruhenden Kirchen begnügt, in dieser kam die Hallen-
kirche, gegen welche sich die benachbarten fränkischen und
rheinischen Gegenden sträubten, frühe und fast allgemein in Auf.
nahme, offenbar aus Vorliebe für einfachere Formen. Auch ist
die Zahl bedeutender Bauten sehr klein. Die schöne .Marien_
kirche zu Reutlingen (1247- 1343), welche noch dem alten
Systeme folgt, war schon in der vorigen Epoche angefangen,
und an dem fünfschifligen Münster zu Ueberl Engen am Boden-