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Deutsche
Gothik.
anzulegen, dann aber, da gleichzeitig in Folge der Verbreitung
des Frohnleichnamsfestes die Hostienverehrnng bedeutend wuchs,
ein eigenes kleines Gebäude in Altarnähe zu errichten, das nun
auf höchsten, so heiligen Inhaltes würdigen Schmuck Anspruch
hatte. Das war denn eine günstige Gelegenheit für unsere Stein-
metzen , ihre Kunst zu zeigen und die Regeln des Thurmbaues,
deren Anwendung im Grossen ihnen so selten gegönnt war, im
Kleinen zu erproben. Sie hatten dabei den Vortheil, dass ihr
Werk hier nicht in unzugänglicher Höhe, sondern unmittelbar
vom Boden der Kirche vor den Augen der Gemeinde aufstieg
und mit seinen kühnen Verbindungen scheinbar gebrechlicher
dünner Steinrippen ihre staunende Verwunderung stärker in An-
spruch nahm. Im vierzehnten Jahrhundert hielt man auch hierin
noch ein gewisses Maass, im folgenden wurden. aber „Meistei-_
Stücke" dieser Art so sehr eine Liebhaberei und ein Gegenstand
des Wetteifers, dass man sie zu wahren Kolossen von Zierformen
bis auf 50, 60,ja wie im Münster zu Ulm bis auf 90 Fuss steigerte.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese Neigung zum
Theil dem Gebrauche der Irlallenkirchen zuschreibe, welche in
ihren baulichen Theilen keine günstige Stelle zur Anbringung
nahen Schrnuckes darboten und doch mit ihren hohen leeren
Räumen das Bedürfniss einer schmückenden Mannigfaltigkeit er-
weckten. Daher brachte man ähnliche thurmartige Zierden auch
an anderen Stellen, auf 'l'aufbecken, Kanzeldecken, auch, wo
sich dergleichen noch erhalten hatten, auf den Ciborien der Altäre
anti). Allein diese in den alten Kirchen gewöhnliche Einschlies-
sung und Ueberdachung des Altars sagte im Ganzen dem jetzi-
gen Geschmacke wenig zu der besonders in Deutschland immer
mehr darauf ausging, die kirchlichen Schranken aufzuheben, alles
weit, licht, öffentlich zu machen. Wenigstens an den Hauptal-
tären duldete oder errichtete man solche Ciborien nicht mehrifg).
1'] So in Wer! in Wesßphalen, Lübke S. 307. Vergl. Laib und Schwarz,
Studien zur Geschichte des christlichen Altars, Stuttgart 185,7, Taf. XIII.
w?) Alle in Deutschland noch vorhandenen Cihorien beßnden sich an Sei_
tenaltären; so in St. Elisabeth in Marburg, im Regensburger: Dom, in Wer], in
Maulbronn und in Mühlhausen in Schwaben. Laib und Schwarz a. a. O. Taf.
X, T, XII, XIII.