Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

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Deutsche 
Gothik. 
Zweck erfüllt, und sofern es blos auf Zweckmässigkeit ankam, 
hatten die Engländer ganz recht, hier aufzuhören. Die Aufgabe 
war also eine rein ästhetische; wie der Körper der Kirche in der 
Dachschräge, wie jeder Strebepfeiler in seinen Fialei] musste auch 
der Thurm einen völligen, aus seiner Gestalt hervorgehenden Ab- 
schluss erhalten; über allen jenen Spitzen durfte hier nicht plötz- 
lich eine Horizontallinie das weitere Aufsteigen abschneiden. 
Freilich kann man dann weiter fragen, ob es auch bei diesem 
ästhetischen Gesichtspunkte nicht würdiger und kirchlicher ge- 
wesen wäre, auch diesem Abschlussc, wie allen anderen, die 
kräftige und einfache Gestalt geschlossenen Mauerwerks zu be- 
lassen; allein diese Frage wird nicht unbedingt, sondern nur mit 
Rücksicht auf die sonstige Auffassung des Gebäudes und beson- 
ders des Thurmes selbst zu beantworten sein. Die kolossalen, 
unmittelbar von dem verjüngten Unterbau aufsteigenden Pyrami- 
den des englischen Styls ganz zu durchbrechen, wäre thöricht ge- 
wesen; auch auf den französischen Kirchen des dreizehnten und 
vierzehnten Jahrhunderts mit ihrer volleren und breiteren Haltung 
mochte der geschlossene Helm passender sein. In Deutschland 
hatte man aber schon in der Uebergangszeit die Thürme gern 
luftig und durchsichtig gebildet, wie dies die beiden westlichen 
Thürme des Bamberger und der eine sehr ähnliche des Naum- 
burger Domes beweisen. Kam nun im gothischen Style noch 
die Vorliebe für schlankere Massen und schon von unten aufstei- 
gendes Stabwerk hinzu, so War es in der 'l'hat geboten, die Spitze 
so leicht wie möglich zu halten. Dann aber war es auch ohne 
Verletzung architektonischer Würde und Solidität gestattet, der 
Poesie, Welcher der schlanke Helm selbst seinen Ursprung ver- 
dankte, auch weiter nachzugehen und diese schlanke Gestalt, wie 
sie als Monument der Frömmigkeit zu Gottes Ehre weit über alle 
Dächer menschlicher Wohnungen, über alle Schlösser und War- 
ten emporragte, auch reicher zu schmücken. War die ganze Kirche 
ein verkörperter Lobgesang, so durfte dieser wohl hier in Him- 
mels Nähe in jubelnden Tönen schliessen. Dass die Stimme des 
Volkes diese Poesie als berechtigt anerkennt, bedarf keines Be- 
weises; überall, wo ein solcher Thurm besteht, ist er der Stolz 
und die Freude der Einwohner. Aber auch der architektonische
	        
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