'l'heoretische
Tendenz.
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begnügte. Aber allmälig mischte sich der deutsche Hang zu
zwecklosen Spitztindigkeiten und Grübeleien hinein; den schlich-
ten, nur technisch herangebildeten Meistern der Bauhütte er-
schienen die einfachen Ergebnisse geometrischer Verhältnisse
als Geheimnisse oder als tiefe Gelehrsamkeit, mit der sie prunk-
ten, sie gewohnten sich zuletzt in der Künstlichkeit solcher
Uebergänge und Lösungen die Schönheit zu suchen, und ver-
loren darüber das Gefühl für die Bedeutung des organischen Zu-
sammenhanges.
Wir haben damit die beiden Elemente angedeutet, aus denen
sich die weiteren Eigenthümlichkeiten der deutschen Architektur
entwickelten; Einfachheit und die Vorliebe für geometrische
Theorie. Im Uebrigen theilten unsere Bauleute die Tendenzen
anderer Länder. Die letzten Ueberreste der Horizontale und
cylindrischer Form verschwanden, die Kapitäle an Diensten,
Portalen und Fensterpfosten wurden verkleinert oder ganz fort-
gelassen, die Gewölbrippen unmittelbar aus den Diensten ent-
wickelt; die Wellenlinie kam auch hier in Aufnahme, sowohl
an Profilen der Gesimse und Basen, der Pfeiler und Dienste, als
auch im Grossen an den Portalen. Indessen verfuhr man dabei
in dieser Epoche noch mit grosser Mässigung, wozu ausser der
allgemeinen Richtung auf das Einfache auch die vorherrschende
Hallenform wesentlich beitrug. Denn ihre räumlichen V er-
hältnisse duldeten Weder die äusserste Zersplitterung noch die
höchste Steigerung des Luftigen, Kühnen und Weichen; ihre
Pfeiler, wenn auch noch so schlank, blieben doch immer in sich
zusammenhängende Massen, die ein Zerfliessen nach vielen
Seiten wie bei Schiffen verschiedener Höhe nicht gestatteten,
ihre hohen Fenster durften, wenn sie nicht unförmlich erscheinen
und die Kirche völlig in ein Glashaus verwandeln sollten, nicht
bis an die Pfeiler ausgedehnt werden. Für Triforien und künst-
liche Wanddecoration war ohnehin keine Stelle. Daraus ergab
sich vielmehr die entgegengesetzte Gefahr, die einer allzugrossen
Gewöhnung an das Einfache und Massenhafte, an das blos
Nützliche, bei welcher der Sinn für feinere Ausarbeitung sich
allmälig verlieren musste. Und diese Gefahr wurde durch jene
Vorliebe für geometrische Studien und Formspiele nicht abge-
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