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Deutsche
Gothik.
In Deutschland dagegen wollte man das Verticale, den Ausdruck
des Schlanken und Aufstrebenden gerade am Ganzen und an den
Haupttheilen, den einzelnen VVandflächen, den gewölbtragenden
Pfeilern, den Fenstern Wahrnehmen, und vermied deshalb alle
Horizontallinien und Unterbrechungen, selbst die aus anderen
Gründen so empfehlenswerthen 'l'riforien. Aus demselben Grunde
musste aber auch die allzugrosse Häufung verticaler Glieder be-
denklich scheinen, denn auch sie erschwerte dem betrachtenden
Auge die Anschauung der Gesammtform; der Gedanke des
Schlanken verband sich daher mit dem des Einfachen. Dass der
reiche französische Chorplan in Deutschland so Wenig Nachah-
mung fand, hatte seine Ursache gewiss nicht blos in der Spar-
samkeit, sondern in der Vorliebe für die schlankere Form des
Polygonschlusses, gegen welche die breitere Masse jenes Chor-
umganges plump und schwer erschien. Ueberhaupt erhielt ver-
möge dieser Auffassung des Verticalprincips die Polygonform
eine grössere Bedeutung, als sie im gothischen Style vermöge
des Rippengewölbes und durch das Bedürfniss der Verringerung
und Zuspitzung der Massen schon an sich hatte. In Frankreich
war sie nur ein Element der Berechnung oder der Construction
und wurde in der Ausführung durch die Menge der Einzelheiten
verdeckt, und in England schloss man gar den Polygonwinkel
aus dem Kirchenplane zu Gunsten des rechten Winkels ganz aus.
In Deutschland dagegen behandelte man die Polygonform als ein
selbstständiges und Wichtiges Element der Gothik. Zunächst
wie gesagt, um die Massen in einzelne schlanke Wände zu
brechen, bald aber auch aus unmittelbarer Vorliebe für ihre kry-
stallinische Erscheinung. Es war, als ob man durch die geome-
trischen Probleme, die sich an sie knüpften, den Schlüssel zur
Lösung tieferer Räthsel zu erlangen glaubte; man behandelte sie
als den Wichtigsten Gegenstand architektonischer Uebung, als
den Schatz der Bauhütte. Anfangs wirkte diese theoretische
Neigung nur günstig; sie schärfte den Eifer der Bauleute, be-
wahrte sie vor schlaffer Willkür und trug dazu bei, eine Wohl-
thätige Strenge der Formen und die energische Ausarbeitung der
Profile zu erhalten, Während die französische Schule sich schon
längst mit oberflächlichen Andeutungen und mit leerer Eleganz