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Deutsche
Architektur.
denen von Amiens und Beauvais noch so sehr gleichen, derselbe
Styl bedeutete dort etwas ganz anderes wie hier. In Frankreich
erschien er als das Resultat von Jahrhunderten, als die höchste
künstlerische Leistung der Nation, die allen ihren Neigungen zu-
sagte und keiner Verbesserung bedurfte. In Deutschland War er
noch keinesweges so fertig und abgeschlossen. Denn, obgleich
in gewissem Sinne Gemeingut des ganzen Abendlandes, weil der
vollkommenste Ausdruck der durchweg herrschenden Stimmung,
trug er doch zunächst französisches Gepräge, und musste sich in
jedem anderen Lande grössere oder geringere Aenderungen ge-
fallen lassen, um ganz einheimisch zu werden. In den meisten
Ländern war dieser Process ein sehr rascher; in England und in
Italien nahm man überhaupt nur so viel von dem neuen Style auf,
als man nach einheimischen Gewohnheiten und Anschauungen
brauchen konnte. Auch in Deutschland zeigte sich gleich anfangs
eine Reaction des nationalen Sinnes, St. Elisabeth zu Marburg
und selbst die Liebfrauenkirche in Trier tragen so entschieden
deutsches Gepräge, wie die Münster von Salisbury und Beverley
englisches, und man wäre vielleicht eben so rasch wie in England
zu einem bestimmten nationalen Style gekommen, wenn man sich
überall diesen Vorbildern angeschlossen hätte. Allein eine solche
Einigkeit und Entschiedenheit im Ergreifen eines praktischen
Mittelweges lag nicht im deutschen Charakter. Man wollte ent-
weder das Alte unverändert oder das Neue in seiner fremden Ge-
stalt. Unsere Meister wanderten daher so lange nach Frankreich,
bis sie fast ein Facsimile des französischen Styles aufstellen konn-
ten, und erst jetzt, um den Anfang dieser Epoche, als diese frem-
den Studien erschöpft und in den Bauhütten von Köln, Strasburg
und einigen anderen Orten gleichsam hohe Schulen des neuen
Styls entstanden waren, welche eine grössere Zahl von Meistern
bildeten und die häufigere Anwendung desselben auf deutsche
Verhältnisse beförderten, fühlte man wieder das Bedürfniss, ihn
diesen entsprechend zu moditiciren. Diese Arbeit der Umgestal-
tung war allerdings jetzt nicht mehr so leicht, wie sie beim ersten
Eindringen der Gothik gewesen wäre , weil man sich schon an
die fremde Art gewöhnt hatte, und nicht mehr nach naivem Natio-
nalgefühl, sondern nach subjectiver, technischer Kritik verfuhr.