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Sechstes
Kapitel.
Weitere Ausbildlmg des gothischen
Styles in Deutschland.
Die politischen Zustände in Deutschland waren Wahrlich nicht
viel günstiger, Wie die des französischen Reiches. Zwar hatten
wir nicht feindliche Heere im Lande, aber auch nicht das selbst
im Unglück erhebende Gefühl nationaler Einigkeit. Die Fehden
der Fürsten mit dem Kaiser, der Ritter mit den Städten, die allge-
meine Unsitte des Faustrechts und des Raubwesens verheerten
das Land und störten das Gewerbe kaum weniger, als der grosse
Krieg; und dabei war überall Zwiespalt im Inneren der Städte,
ja selbst der Familien, eine Verwirrung der Begriffe und Ver-
hältnisse, bei der nur der Leichtsinn unbekümmert bleiben konnte.
Kamen dazu dann alle die Leiden, die Seuchen, die Ueberschwem-
mungen, Erdbeben und wie sie sonst hiessen, welche Deutsch-
land noch härter trafen als andere Länder, so könnte man glau-
ben, dass der Muth zu künstlerischen Unternehmungen ganz
gefehlt haben, dass der Zustand der Architektur ein noch viel
schlechterer gewesen sein müsse, wie in Frankreich. Allein kei-
nesweges, vielmehr finden wir ihn so günstig, dass die erste
Islälfte des vierzehnten Jahrhunderts gradezu die Blüthezeit der
deutschen Gothik wurde und auch dann nur eine sehr allmälige
Abnahme eintrat. Man sieht daran, dass die Kunst weniger von
den einzelnen, vorübergehenden Schicksalen der Völker abhängt,
als man gewöhnlich glaubt, und dass sie, einmal angeregt, den
Gesetzen ihrer inneren Entwickelung folgt.
In dieser Beziehung waren aber Frankreich und Deutschland
in sehr verschiedener Lage. Mochte die Kathedrale von Köln