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Einleitung.
Die Kunstgeschichte giebt kein so unerfreuliches Bild.
Die Architektur zeigt zwar nicht mehr das beständige kühne
Fortschreiten von einer Erfindung zur andern, wie in den
beiden vorigen Jahrhunderten, aber sie erhält sich in rüstiger
und erfolgreicher Thätigkeit und mit fast unverminderter Rein-
heit des Styls, und daneben erwacht in der Plastik und Ma-
lerei ein frisches, seelenvolles Leben, von dem man kaum
weiss, 0b man es als die Vollendung und den Abschluss
mittelalterlicher, oder als den ersten, zarten Keim moderner
Kunst betrachten soll. Und auch hier ist die Kunst nicht eine
gleichgültige, von der inneren Entwickelung unabhängige Er-
scheinung, sondern die Aeusserung sittlicher Regungen, welche
nur in der politischen Geschichte keinen Ausdruck finden und
daher von den Beschreibern derselben unbeachtet bleiben oder
nicht genügend gewürdiget werden. Es ist eine Zeit des
Ueberganges und zwar eines raschen Ueberganges, wo neben
den herbstlichen Früchten der alternden Zeit schon die ersten
Frühlingsblüthen der neuen hervorspriessen. Diese Mischung
verwirrte und schreckte die Zeitgenossen, hinderte die Aus-
bildung grosser Charaktere, und beförderte das Schwanken der
äusseren Verhältnisse, nöthigte aber die Gemüther zur tieferen
Einkehr in sich selbst und lehrte sie dadurch ihre inneren
Kräftp
ZU
üben
und
kennen
Zll
lernen.
Die Eitelkeit menschlicher Hoffnungen und Gedanken trat
gleich im Anfange des Jahrhunderts in recht greller und
schmerzlicher Weise an den Tag. Wer am Schlusse der
vorigen Epoche die abendländische Welt überblickte, konnte
sich grossen Erwartungen hingeben. Die innere Unruhe,
Welche die Völker bis zum Orient getrieben hatte, schien ge-
stillt; die grossen Ideen, um Welche man gekämpft, hatten im
Wesentlichen gesiegt, nur das Unerreichbare war aufgegeben
und dies war entbehrlich. Alle Verhältnisse erschienen wohl-
geordnet; man dln-fte glauben, auf dauernden Frieden rechnen
zu können. Eine grossartige Feier am Schlusse des dreizehnten
Jahrhunderts bestärkte in diesen Hoffnungen. Bonifaz VIIL,
der Nachfolger der grossen Päpste der I-Iohenstaufezrzeit, bot
Allen, welche im Laufe des Jahres 1300 die heiligen Stätten