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Französische
Architektur.
An dem Mangel an Beschäftigung und Gunst lag es also
nicht, Wenn die französische Architektur in dieser Epoche nicht
N amhafteres leistete, sondern an anderen tieferliegeilden Ur-
sachen, hauptsächlich an der Ermattung, welche nach der leiden-
schaftlichen, fast fieberhaften Erregung der vorigen Epoche nicht
ausbleiben konnte. Schon bald nach der Mitte des dreizehnten Jahr-
hunderts wird eine Abnahme der künstlerischen Energie fühlbar;
die Faoade des südlichen Kreuzschilfes an N otre-Dame von Paris,
die laut erhaltener Inschrift 1257 begonnen wurde, hat schon die
magern Profile und die bei allem Aufwande von Mitteln dürftigen
Formen der spätern Gothiköi). Es mag sein, dass die Wahl des
Meisters eine weniger glückliche gewesen; aber dass eine solche
in Paris, dem Mittelpunkte französischer Sitte und Kunst, Wo
das Meisterwerk derselben, die Sainte Chapelle, kaum erst voll-
endet war, vorkommen konnte, zeigt doch schon ein abneh-
mendes Interesse; auch häufen sich bald darauf ähnliche Er-
scheinungen.
Man kann nicht glauben, dass ein plötzlicher Mangel an
architektonischen 'l'alenten eingetreten sei oder dass die Bau-
herren immer das Unglück gehabt hätten, die minder Begabten
vorzuziehen. Der Grund lag vielmehr in den entmuthigenden
Umständen und namentlich in der Nachwirkung jener über-
spannten Thätigkeit der vorigen Generation, welche ihren Nach-
folgern neben der Gewöhnung an den Reiz beständiger Neue-
rungen die Aufgabe hinterlassen hatte, halbvollenrlete Werke in
bescheidener Treue auszuführen. Sie waren im vollsten Sinne
des Wortes Epigonen, die theils auf den Lorbeern ihrer Vor-
gänger ruheten und die bekannten Formen schläfrig wiederholten,
theils aber (lllfßll die gerechte Bewunderung jener ihrer Vor-
gänger und durch das Gefühl der Unmöglichkeit mit ihnen
zu wetteifern, sich im eigenen Thun gelähmt fühlten. Ihre
Arbeiten schliessen sich daher noch an die der vorigen Epoche
an, behalten meistens dieselben Motive, dieselben Anordnungen bei
und erlauben sich nur kleine Correcturen, die ihnen ganz in dem
i)
Lassus
Viollet-le-Duc a. a. O. II, 425. Vergl. die Abbildungen in der von
und Viollet-le-Duc herausgegebenen Monographie de N. D. de Paris.