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Architektur.
blendenden Schmuck, als auf innere Harmonie ankam. Da
musste denn oft entweder die Constructioxi zum Zwecke der Or-
namentation eingerichtet, oder diese ohne Herleitung aus der
Construction, als blosses Scheinwesen angebracht werden. Um
jene VVahrheit und Offenheit der vorigen Epoche, Welche so
günstig gewirkt hatte, war es geschehen; man war auf eine ab-
schüssige und gefährliche Bahn gerathen. Selbst die grosse
Uebung und Erfahrung der Gehülfen war ein zweideutiges Ge-
schenk, weil sie die Architekten verleitete, manche Details,
welche sie früher vorgezeichnet hatten, ihnen zur eigenen Aus-
führung nach flüchtigen Andeutungen zu überlassen. Bei der
grossen Festigkeit des Systems und bei dem Vertrauen, welches
diese Handwerker jeder an seiner Stelle verdienten, konnte das
ohne augenblicklichen Nachtheil geschehen; aber die vollständige
Harmonie der früheren Bauten, bei Welchen derselbe Geist alle
Theile bestimmt hatte, ging allmälig verloren; jeder einzelne
Meister folgte den besonderen Regeln seines Handwerks, bis
man sich zuletzt gewöhnte, die Details wie selbstständige, mit
dem Ganzen nur in bedingter Beziehung stehende Leistungen zu
betrachten. Auch die Architekten selbst Waren nicht mehr die-
selben wie sonst. So lange das System noch nicht festgestellt
war und sich immer neue Mängel rmd Bedürfnisse zeigten, denen
mit neuen Erfindungen begegnet werden musste, konnten nur die
Begabtesten in die Schranken treten und nur durch die höchste
Anspannung aller ihrer Kräfte sich hervorthun. Jetzt, da die
Wege gebahnt, die Regeln festgestellt Waren und es sich nur
um ihre Anwendung handelte, kamen auch mässige Talente zur
Geltung, deren Werke, wenn auch ganz zweckmässig und gut,
prachtvoll und solide, doch nicht den Stempel der Originalität
trugen, wie die ihrer Vorgänger. Ja auch selbst, wo das Ta-
lent ganz dasselbe war, fehlte die WVärme der Begeisterung, und
zwar nicht etwa durch eine Schuld dieser späteren Meister, son-
dern vermöge einer unausbleiblicheln Folge ihrer veränderten
Stellung. Die Kunstgeschichte zeigt es auf jeder Seite, dass die
Zeit des Ahnens und Strebens der Kunst günstiger ist, als die
des Wissens und Besitzens. Das noch unbekannte, nur erstrebte
Ideal steht vor der Seele wie ein mächtiges Geheimniss, unbe-