Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Die Spätzeit des Mittelalters bis zur Blüthe der Eyck'schen Schule (Bd. 6 = [2], Bd. 4)

Weitere 
Durchführung 
des 
Verticalismus. 
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Zeit gewöhnlich war, und dass andererseits die grössere Kennt- 
niss der Geometrie, welche die Gothik bei den Bauleuten erfor- 
derte und ausbildete, eine Neigung zu complicirten und gelehrt 
erscheinenden Verbindungen gab, und hier wie in der VVissen- 
schaft zu trockener Pedanterie und geschmackloser Ueberladung 
verleitete. Vor Allem fand aber die Gefühlsrichtung der Zeit 
in jenem Verticalismus verwandte Züge, die es durch seinen 
Beifall steigerte; die schlanke Eleganz der feinen Glieder, ihr 
überschwängliches Aufstreben und besonders endlich ihr weiches 
Neigen und Biegen. Den vollen Halbkreisbogen hatte der go- 
thische Styl schon längst beseitigt, aber auch der Spitzbogen 
war den Bauleuten und dem Gefühle des jetzigen Publikums zu 
einfach und zu strenge, und der Versuch, ihn künstlicher, nicht 
blos wie sonst aus zwei, sondern aus mehreren Kreisstücken 
zusammenzusetzen, fand daher Beifall. Diese verschiedenen 
Motive traten freilich nicht alle zugleich und an allen Orten deut- 
lich hervor, aber es ergab sich ans ihnen doch eine Reihe von 
Formveränderungen, die dieser Epoche eigen sind, und die wir 
in ihren Hauptgestaltungen betrachten müssen. 
Zunächst beschäftigte man sich mit der Pfeilerbildung. 
Dass sie im Ganzen der Wölbung und in ihren einzelnen stär- 
keren und schwächeren Diensten durch Anordnung und Grösse 
den verschiedenen Bögen und Rippen entsprechen musste, die 
von dem Pfeiler ausgingcn, stand längst fest. Indessen galt dies 
doch nur im Ganzen, man glaubte nicht, für jede einzelne Rippe 
oder gar für die einzelnen Gurtungen der Bögen besondere 
Stützen haben zu müssen; es genügte wenn das Kapitäl, von 
dem sie aufstiegen, ihnen eine sichere Unterlage gab und seiner- 
seits durch die Glieder des Pfeilers getragen wurde. Auch war 
die Reminisceilz des Säulenschaftes noch nicht völlig ver- 
schwunden, sondern machte sich tl1eils an dem Kern des Pfeilers, 
theils bei den einzelnen Diensten noch immer geltend, während 
die Rippen und Bögen schon lange birnförmig prolilirt Wurden. 
Dies Alles war kein wesentlicher Mangel, sondern selbst ein 
ästhetischer Vortheil, indem das Auge an der Verschieden- 
heit dieser Theile sogleich eine Mannigfaltigkeit verschiedener 
Functionen erkannte. Allein bei der jetzigen Auffassung des
	        
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