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Architektur.
thigt, mit Welchem Bewusstsein sie verfahren, Wie sie bestrebt
sind, die correcte Durchführung des Princips auch überall augen-
scheinlich darzulegen.
Vor Allem wurde denn auch der ganze Kirchenbau, Wie
man ihn überliefert erhalten, auf Grund dieser höheren Einsicht
einer Revision unterworfen. Die früheren Meister hatten, da das
Constructive und die Wirkung im Grossen ihre Kraft in An-
spruch nahm, manche Details und Ornamente aus alter Tradition
beibehalten und den Gliedern aus Vorsicht und Gewöhnung
mehr als die nothwendige Stärke gegeben. Dies konnte den
neueren Meistern nicht entgehen und reizte sie, sich in der wei-
teren Durchführung des Princips zu versuchen, überall die
Massen zu vermindern, die höchste Schlankheit und Leichtigkeit
zu erstreben, dabei aber auch an jedem Theile den Zusammen-
hang des Senkrechten zu betonen und den des Horizontalen
möglichst zu brechen, und zu diesem Zwecke die vollen und
einfachen Glieder in mehrere, sclnvächere, Womöglich das Ganze
in lauter verticale Einzelheiten aufzulösen. Dies, wie es aus der
bewussten Consequeuz des Verticalprincips sich ergab, ent-
sprach auch der allgemeinen Richtung der Zeit, den Erschei-
nungen,'die sich auf allen Lebensgebieten darboten. Die Einheit
des Glaubens und Emptindens, Welche in der vorigen Epoche
die geistige VVelt zu ruhigen, grossen Massen verband, hatte ia
einer unruhigen Bewegung, einer Vereinzelung der Stände und
der Individuen Platz gemacht, in der jeder Einzelne von seinem
Standpunkte aus sich in einseitigem Bestreben bald durch ritter-
liche Kühnheit, bald durch scholastische Consequenz steigerte,
und selbstständig Grosses zu leisten meinte, während doch
Thaten und Gedanken schwächlich ausfielen und statt Wahrer
Individualität nur monotone Wiederholung zeigten. Die sittliche
Welt gab daher in der 'l'hat denselben Anblick und beruhete auf
ganz ähnlichen Motiven, wie diese spätere Gothik. Dazu kam
denn, dass die Meister bald an diesem vollendeten Verticalismus
ein solches Gefallen fanden, dass sie ihn über die Gränze stati-
scher Möglichkeit hinaus verfolgten , daher zu verborgenen
Stützen und Hülfen genöthigt wurden, und so auch in der Bau-
kunst zu einem Scheinweseil gelangten, wie es im Leben dieser