Hohe
Blüthe
Anfange
der
Epoche.
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musste sich vielmehr der Nothwendigkeit niedriger Stockwerke
fügen; die Anlage eines Strebesystems war bei der Enge städ-
tischer Plätze oder befestigter Schlösser selten ausführbar, bei
der ohnehin nöthigen Mauerdicke und der geringen Last höl-
zerner Decken immer entbehrlieh. Xvollte man dennoch der
kirchlichen Pracht sich einigermaassen nähern, oder überhaupt
die Formen beibehalten, die aus der Eigenthümlichkeit des Ge-
wölbebaues entstanden waren, so bedurfte es einer neuen erfin-
denden oder übersetzenden 'l'hätigkeit.
Dabei kam aber den ohnehin geschickten Meistern ein
wichtiger Umstand zu Hülfe. Der gothische Styl War nicht aus
dem Kopfe eines Theoretikers, nicht mit einem Male, sondern
allmälig, durch einzelne Neuerungen und Verbesserungen, durch
das Bedürfhiss harmonischer Ausgleichung und organischer
Verbindung entstanden. Man war zu einer gleichmässigen Be-
handlung aller Theile, zu einer Regel gelangt, ohne sie in klaren
YVorten zu formuliren. Jetzt, nachdem das Ziel erreicht war,
und der Styl als ein vollendeter gelehrt, in andere Gegenden
übertragen, zur Umwandlung älterer und zur Herstellung Welt-
licher Gebäude angewendet werden sollte, konnte man nicht
umhin, sich von seiner Eigenthüntlichkeit genauere Rechenschaft
zu geben. Man bemerkte leicht, dass er sich von den älteren
Bauweisen dadurch unterschied, dass die statisch Wichtigen
Theile senkrecht vom Boden aufstiegen, und dass sowohl die
technischen und ökonomischen Zwecke als auch der erwünschte
Schein des Leichten und Kühnen um so vollständiger erreicht
würden, je genauer diese senkrechte Gliederung durchgeführt
sei. Man wusste es, wenn man auch das Wort nicht brauchte,
dass der neue Styl auf dem V erticalsystem beruhe. Und
damit war allerdings viel gewonnen; denn man hatte nun eine
Regel, welche vor technischen Missgriilen schützte, die Har-
monie des Ganzen sicherte, und die Arbeit in hohem Grade er-
leichterte. Des unsicheren Herumtappens, der kostspieligen,
zeitraubenden Versuche, gar vieler Sorge und Mühe War man
überhoben und hatte ein vortreftliches fMittel, den kirchlichen
Styl auf Aufgaben aller Art zu verwenden. YVir können deut-
lich erkennen, wie sehr diese neue Einsicht die Meister ermu-