88
WVeltleben.
Völkern. Wichtig war es dann, dass die allgemeine YVander-lust
einzelne Reisende, wie den englischen Ritter John von Maunde-
ville 1378), oder den klugen venetianischen Handelslnanil
Marco Polo Weit über die Gränzen des Abendlandes hinaus in
ferne Länder fast mährchenhafireil Klanges verlockte, wo sich
neben der Sucht nach Abenteuern oder Gewinn doch schon ein
Trieb der Forschung in ihnen regte. Ihre anziehenden und lehr-
reichen Erzählungen, welche, wenn auch nicht ohne phantasti-
sche Einmischung, doch schon schärfere und richtigcre Beobach-
tungen zeigen, als in der vorigen Epoche, wirkten als eine
Lieblingslectüre des Jahrhunderts überaus anregend auf ihre
Zeitgenossen, indem sie den Gesichtskreis erweiterten, den Sinn
für Völker- und Erdkunde erweckten und dadurch das Auge
auf die bisher missdeuteten oder übersehenen Wunder der Natur
leiteten. Jene Unruhe und Beweglichkeit, Welche zunächst nur
als sinnliche Genusssucht erschien, diente also auch höheren
Zwecken und vermittelte den Uebergang in die Anschauungs-
weise eines neuen Zeitalters.
Esist eine unruhige und Widerspruchsvolle Zeit, Welche
ich in diesen geschichtlichen Skizzen zu schildern versucht habe.
Die schärfsten, schwer zu vereinigenden Gegensätze stehen oft
dicht neben einander, die Naivetät des Gefühls und die zuneh-
mende Künstlichkeit und Steifheit der Sitte, die bedächtige,
hohle Breite der scholastischen Gelehrsamkeit und der gewalt-
sam hervorbrechende Ausdruck des Gefühls, das leichte Genuss-
leben der VVeltleute und der SClIWÜTHICTiSCIIC Tiefsinn der My-
stiker. Im Wesentlichen aber lassen alle diese Gegensätze sich
auf den einen zurückführen, den wir schon in der vorigen
Epoche wahrgenommen haben, den zwischen einseitiger, ab-
stracter V'erständigkeit und vorherrschendem Gefühlsleben. Wir
stehen im Ganzen noch auf demselben geistigen Boden, es ist
noch dieselbe ideale Ansehauungsweise, Welche, von heiligen
und profanen Ueberlieferungen ausgehend, ihre daraus entste-
henden Gedanken und Gefühle in das Leben übertragen will,
ohne sie der Zucht der Natur und Erfahrung zu unterwerfen.