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Französische
Plastik.
aber nirgends ist dies Thema so systematisch und so leben-
dig behandelt, wie hier, wo der Reihe der Monatsarbei-
ten noch eine zweite hinzugefügt ist, welche die Erho-
lungen der Menschen in jedem Monate schildert. Ebenso
sind am Hauptportale die Tugenden und Laster sehr aus-
fülirlich dargestellt, jene als bekleidete, weibliche Gestalten,
welche auf einer Scheibe irgend ein ihnen entsprechendes
Thier oder anderes Attribut, gleichsam ihr Wappenzeichen,
tragen, diese dagegen nicht personilicirt, sondern durch
Handlungen versinnlicht und zwar in sehr lebendiger Weise,
oFt nicht ohne Humor. Die Feigheit z. B. ist durch einen
laufenden, sich ängstlich umblickenden Mann repräsentirt,
der sein Schwert verloren hat, während ihn nur ein Hase
verfolgt Neben dieser grösseren Freiheit erhielten sich aber
noch Reminiscenzen des strengeren Styles. An der Facade
der Kathedrale von Amiens, etwa um 1238, sind die Köpfe
der Statuen verhältnissmässig klein, die Gewänder in engen,
senkrechten Falten gebrochen, die Haare zu regelmässigen
Reihen gleichgeformter Locken gebildet, die Züge des Er-
lösers und der Apostel noch an die traditionellen Typen
erinnernd. Aber dabei sind die Verhältnisse selbst bei ko-
lossalen Dimensionen richtig, die Motive einfach, ausdrucks-
voll und würdig, die Bewegungen mannigfaltig und mit
Geist behandelt, so dass das Ganze einen höchst imposan-
ten Eindruck macht. Die Zeit Ludwigs IX. War auch an
kirchlichen Sculptureu überaus fruchtbar, von denen wir
als bestimmt datirt die an den Kreuzfacadeil von N otre-Dame
und die der Ste. Chapelle zu Paris anführen können. Hier
finden wir die Anforderungen des Natürlichen und Styli-
1') Die Sculpturen der Fagade hatten theils durch eine unter
Souftlofs Leitung (1771) vorgenommene bauliche Aenderung, theils in
der Revolution sehr gelitten, sind aber jetzt im Ganzen sehr stylge-
mäss restaurirt.