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Englische
Miniaturen.
aufgegeben, die Tiefe des in der Schrift ausgesprochenen
Gedankens zu erreichen oder gar weiter auszuführen; sie
will nicht meln- belehren, sondern dem Auge sehmeicheln,
sie strebt nach glatter, leichtfasslicher Form und gefälliger
Färbung. Die Ursachen dieser Geschmacksveränderung
sind sehr klar; aus einer Zeit unruhigen Strebens sind
wir in eine Zeit fertiger und selbstzufriedener Bildung ge-
langt. Durch den gothischen Styl, die scholastische Wissen-
Schaft und das Ritterthum hatte man feste Geschmacks-
regeln, Begriffe und Sitten, die alles beherrschten, und den
schwankenden aber lebendigen und individuellen Dilcttantis-
mus der ersten Hälfte dieser Epoche Weder brauchten noch
duldeten. Alle diese Ursachen wirkten in Frankreich viel
früher und mächtiger, und es ist daher natürlich,
Erfolge hier auch eher reiften als in Deutschland.
dass
die
In den englischen Miniaturen bemerken wir schon
am Anfange der Epoche eine Annäherung an den franzö-
sischen Styl; jene phantastische Zeichnungsmanier der angel-
sächsischen Schule verschwindet, die Köpfe erhalten das
völligere Oval wie in Frankreich, die Zeichnung wird fester
und lehnt sich mehr an antike Motive an, endlich kommt
auch die solide Guaschmalerei auf Goldgrund, wie man sie
jenseits des Kanals übte , mehr und mehr in Anwendung.
Es war ein Sieg der mehr formellen Sinnesweise der fran-
zösisch gebildeten Normannen über das mehr innerliche
und phantastische Wesen des sächsischen Stammes. In-
dessen erkennen Wir noch Ueberreste jener älteren VVeise;
die Gestalten sind noch schlanker als dort, die Gewänder
oft flatternd, die Bewegungen heftiger und ausdrucksvoller.
Auch äusseren sich schon jetzt manche brittische Eigen-
thümlichkeiten; die realistische 'l'endenz in den genreartigen