Eindringen
des
poetischen
Elements.
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Tinte der Umrisse belebt, theils mehr oder weniger, aber
immer nur leicht colorirt. Auch die Zeichnung ist nicht
vollendeter, als in jenen anderen ltlanuscripten, die Ge-
sichter sind statt des hergebrachten Ovals mehr eckig, mit
hervortretendem Untertheile, übrigens aber auch hier aus-
druckslos, oder von zu starkem, übertriebenem Ausdruck,
die Augen zu gross, die Gewänder weniger steif, aber
dafür tlatternd. Ein wesentlicher Vorzug dieser Zeich-
nungen besteht dagegen in ihrer dramatischen Lebendigkeit
und in der wirksamen Benutzung der Gebehrden für den
Ausdruck des Leidenschaftlicher], namentlich des Schmerzes.
Man wird oft überrascht, wie diese Zeichner bei aller Un-
vollkommenheit ihrer Körperkenntniss mit Wenigen Strichen
durch die Biegung des Körpers, durch die Bewegung der
Hände das Gefühl des Moments in sprechender, ergreifen-
der Weise auszudrücken vermögen. Sie stehen darin völlig
auf dem Standpunkte der Dichter, von welchen sie ange-
regt sind, die feinere psychologische Motivirung, die ihren
Ausdruck im Gesichte finden müsste, ist schwach, dagegen
das Phantastische, Unvorbereitete, Leidenschaftliche oft
höchst wirksam. Wie es scheint, wurde diese Kunstweise
vorzugsweise in Bayern geübt, also in Süddeutschland, Wo
auch die Poesie vorzugsweise blühte; wenigstens stammen
mehrere der Handschriften, in denen wir sie kennen lernen,
aus diesen Gegenden. S0 zwei Manuscripte der Berliner
Bibliothek, die deutsche Eneidt des Heinrich von Veldegk,
Wo jene Gebehrdensprache neben der Rohheit der Zeichnung
überrascht, und das Gedicht des Mönchs Wernher von
Tegernsee vom Leben der Maria, bei welchem die Leben-
digkeit der Darstellung sich mit dem Ausdrucke sanfter
Anmuth, den der Stoff erforderte, verbindet k). Beide
Kugler in seiner Dissertation: De Werinh ero, saeculiXll. Monacho
und in den kl. Sehr. I, S. 12 und 38, mit Zeichnungen.
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(1831)