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Deutsche
Miniaturen.
{liegenden Gewändern, auf gallopirendem Bosse sitzend,
mit geschwungenem Speere. In den Kämpfen ist das Ge-
fühl für ritterliche Haltung unverkennbar, auf der oben
erwähnten Darstellung der Tugendleiter das Ilerabfallen
charakteristisch verschieden und lebendig dargestellt. Die
reiche Phantasie und die Auffassungsgabe der Verfasserin
machen sich überall geltend, und das Ganze giebt, un-
geachtet der mangelhaften 'l'echnik, ein sehr anschauliches
Bild von dem geistigen Zustande der Zeit. Namentlich
sehen wir darin recht deutlich, wie die neuen Gedanken,
welche Scholastik und Poesie erzeugten, auch neue Mittel
der Versinnlichung forderten und (ladurch zu Vorstellungen
führten, für welche die ältere Kunst keine Vorbilder gab
und die nur aus dem Leben genommen werden konnten.
Aehnlich in der Kühnheit allegorischer Erfindung sind
die Miniaturen eines aus dem Kloster N iedermünster bei
Regensburg stammenden Evangcliariums in der königlichen
Bibliothek zu München k), vom Ende des zwölften Jahr-
hunderts. Sehr merkwürdig ist darin namentlich eine Dar-
stellung der Kreuzigung als des Sieges über den Tod.
Christus am Kreuze, aber mit der Königskrone und dem
Purpurgewande bekleidet, neigt sein Haupt zur Rechten zu
einer bekrönten weiblichen Gestalt in reichem Gewande,
die als Vita, das ewige Leben, bezeichnet ist, während
auf der anderen Seite des Kreuzes Mors, der Tod, schlecht
bekleidet, mit zerbrochener Lanze lind Sichel, am Halse
verwiunlet, umsinkt. Dabei ist aber die künstlerische Aus-
führung sehr viel vollendeter; die Zeichnung, obgleich noch
durchweg byzantinisirrnd, verräth Schönheitssinn und feines
Gefühl, die Farbe ist sauber und harmonisch behandelt.
Vom Ende des zwölften Jahrhunderts an mehren sich
1') Kugler Museum 183i,
Gesch. d. d. Kunst I, 104.
164
Svhr.
und
Förster