Ihr
Verhältuiss
zur
Architektur.
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Anderes zu Hülfe; das warme Gefühl, die poetisch ange-
regte Stimmung der Zeit ersetzte in gewissem Grade was
811 objectiver Kenntniss fehlte, und lehrte die Künstler die
Hngemessene und selbst schöne Form finden. Und so
wurde dieser Mangel fast zu einem Vorzuge. Denn da
der Körper von innen heraus nach geistigen Motiven ent-
Stand, wurde der Ausdruck derselben sehr viel inniger und
Wahrer; die Künstler konnten ungehemmt durch kleinliche
Details unmittelbar auf ihr geistiges Ziel hinarbeiten und
Sich mancher Mittel bedienen, welche einer naturalistisch
mehr durchbildeten Kunst versagt gewesen wären und doch
die Phantasie mächtig erregen, so dass diese in mancher
Beziehung unvollkommenen Kunstwerke durch die VVärme
des Gefühls und durch den Ernst der religiösen Ueberzeu-
gung ihrer Urheber oft stärker wirken, als die Erzeugnisse
einer viel vollendeteren Technik.
Ausserdem gewährte aber diese Schwäche des Natu-
ralistischen den Vortheil einer innigererl Verschmelzung
der darstellenden Kunst mit der Architektur. Eine völlig
gereifte selbstständige Plastik und Malerei wäre nicht fähig
gewesen, so in die architektonischen Zwecke einzugehen,
Wie es der gothische Styl forderte; die unbestimmten und
flüssigen Formen dieser jugendlichen Kunst schmiegten
sich leicht der architektonischen Gliederung an und ver-
schmolzen mit ihr zu einem Ganzen. Diese Verbindung
War der Architektur günstig, indem die diagonalen und
gerundeten Linien der Plastik die Strenge rechtwinkeliger
Anordnung milderten; sie war aber auch für die darstel-
lende Kunst kein feindlicher Zwang, sondern ihr eigenes
Bedürfniss. Der Formensinn war hinlänglich gereift, um
die Haltungslosigkeit ihrer schwankenden Gestalten zu
fühlen und eine Regel zu suchen, die er nur in der Ar-
Chitektur finden konnte. Daher gab man den Bildwerken,