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Die
darstellenden
Künste.
Wahrheit, selbst da , wo sie sich aufdringcn musste; na-
mentlich sind die Bäume fast alle gleich, mit etwas gebo-
genem Stamme und einer birnförmig zugespitzten Krone,
ohne die entfernteste Andeutung der verschiedenen Bildung
ihrer Aeste gezeichnet. Die Fichte unterscheidet sich von
der Eiche nur durch etwas höheren, Stamm und kleinere
Krone und gleicht sowohl dem Mandelbaum als der Cy-
presse. Nur dadurch kommt der Maler zuweilen der
Phantasie des Lesers zu Hiilfe, dass er auf jener stets
gleichgestalteten Krone Einzelnheiten der wirklichen Pflanze,
bei der Eiche Blätter und Eicheln, bei dem Apfelbaum
Früchte, bei dem Rosenstock Blumen aufgezeichnet hat.
Freilich geht diese Nichtbeachtung der Wirklichkeit bei
Thieren nicht ganz so weit wie bei Pflanzen; schon die
Thierfabel zeigt ein reges Mitgefühl, welches auf die Dar-
Stellung einwirken musste. Aber wenn auch die Bewe-
gungen verständlich und lebendig sind, ist doch die Form
noch überall sehr ungenau, selbst bei dem Lieblingsthiere
dieser ritterlichen Zeit, dem Pferde, auch für das nach-
sichtigste Auge anstössig. Vilars de Honnecourt rühmt
sich zwar, den Löwen nach der Natln gezeichnet zu haben,
aber wahrscheinlich hielt er dies nur bei dem fremden
Thiere für nothwendig, nicht bei den einheimischen, die
jeder vor Augen hatte; und auch bei dem Menschen bleiben
seine Naturstudien, wenn es überhaupt solche sind, nur
bei dem allgemeinen Umrisse stehen. Man zeichnete nach
der Erinnerung oder nach älteren Kunstwerken, die ja
auch in Vilars Skizzenbuche vorherrschen, gönnte der
äusseren Erscheinung nur eine flüchtige und befangene
Betrachtung, und begnügte sich daher auch in der Kunst
mit unbestimmten oder unrichtigen Formen. Gerade aber
hier, bei dem edelsten und schwierigsten Theile der künst-
lerischen Aufgabe, bei der menschlichen Gestalt, kam etwas