Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Entstehung und Ausbildung des gothischen Styls (Bd. 5 = [2], Bd. 3)

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Die 
darstellenden 
Künste. 
Wahrheit, selbst da , wo sie sich aufdringcn musste; na- 
mentlich sind die Bäume fast alle gleich, mit etwas gebo- 
genem Stamme und einer birnförmig zugespitzten Krone, 
ohne die entfernteste Andeutung der verschiedenen Bildung 
ihrer Aeste gezeichnet. Die Fichte unterscheidet sich von 
der Eiche nur durch etwas höheren, Stamm und kleinere 
Krone und gleicht sowohl dem Mandelbaum als der Cy- 
presse. Nur dadurch kommt der Maler zuweilen der 
Phantasie des Lesers zu Hiilfe, dass er auf jener stets 
gleichgestalteten Krone Einzelnheiten der wirklichen Pflanze, 
bei der Eiche Blätter und Eicheln, bei dem Apfelbaum 
Früchte, bei dem Rosenstock Blumen aufgezeichnet hat. 
Freilich geht diese Nichtbeachtung der Wirklichkeit bei 
Thieren nicht ganz so weit wie bei Pflanzen; schon die 
Thierfabel zeigt ein reges Mitgefühl, welches auf die Dar- 
Stellung einwirken musste. Aber wenn auch die Bewe- 
gungen verständlich und lebendig sind, ist doch die Form 
noch überall sehr ungenau, selbst bei dem Lieblingsthiere 
dieser ritterlichen Zeit, dem Pferde, auch für das nach- 
sichtigste Auge anstössig. Vilars de Honnecourt rühmt 
sich zwar, den Löwen nach der Natln gezeichnet zu haben, 
aber wahrscheinlich hielt er dies nur bei dem fremden 
Thiere für nothwendig, nicht bei den einheimischen, die 
jeder vor Augen hatte; und auch bei dem Menschen bleiben 
seine Naturstudien, wenn es überhaupt solche sind, nur 
bei dem allgemeinen Umrisse stehen. Man zeichnete nach 
der Erinnerung oder nach älteren Kunstwerken, die ja 
auch in Vilars Skizzenbuche vorherrschen, gönnte der 
äusseren Erscheinung nur eine flüchtige und befangene 
Betrachtung, und begnügte sich daher auch in der Kunst 
mit unbestimmten oder unrichtigen Formen. Gerade aber 
hier, bei dem edelsten und schwierigsten Theile der künst- 
lerischen Aufgabe, bei der menschlichen Gestalt, kam etwas
	        
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