Einleitung.
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des Inneren erstrebt malerische Wirkung; seine frei auf-
steigenden Fialen, seine reichgestalteten Bündelpfeiler sind
plastische Gebilde; die Weichgeschwungenen Profile; das
Maasswerk der Fenster, der überall hervorbrechende Blät-
terschmuck athmen freies; organisches Leben. Die Lei-
stungen der anderen Künste sind ihm nicht bloss ein
zufälliger Schmuck, sondern Theile seines Organismus; die
tiefen Höhlungen der'Portale; die 'l'abernakel der Strebe-
pfeiler; die Nischen. der Gallerien fordern mit Notliwen-
(ligkeit Statuen; die Weiten Oeifnungen der Maasswerk-
fenster ügurenreiche Glasgemälde. Die Architektur kam
also den (larstellenden Künsten mehr als je entgegen.
Eben so sehr aber waren diese zu ihrem Dienste bereit
und geeignet. Was sie in anderen Zeiten der Architektur
entfremdet, der Sinn für die belebte Natur, hatte jetzt eine
Richtung, die sich noch enge dem Architektonischen an-
schloss. Allerdings war das Selbstgefühl erwacht; der
Mensch in seiner Kraft und Schwäche, in seinen Empfin-
dungen und sittlichen Aeusserungen war der Gegenstand
eines warmen Interesses geworden, welches den Blick
Schärfte und zu Beobachtungen führte. Dies erkennen wir
denn auch an den künstlerischen Darstellungen, so viel es
die Eigenthümlichkeit der verschiedenen Kunstzweige ge-
stattet; die menschlichen Gestalten werden lebendiger und
ausdrucksvoller als bisher, zeigen feinere moralische Züge,
höheres dramatisches Leben, selbst ein besseres Verständ-
niss des Gliederbaues, und die häufigere Anwendung der
gleichzeitigen 'l'racht verräth, dass der Zeichner mehr aus
der Wirklichkeit als aus früherer Kunsttrarlition schöpfte.
Auch für die äussere Natur war das Gefühl empfänglicher
geworden; der Minnesänger schwelgte in liäiihlingswonnen,
und die Frömmigkeit war sich einer erhöheten Stimmung
bewusst, wenn sie Gott nicht bloss in Worten, sondern