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Die
darstellenden
Künste.
Herrschaft strenger Gesetzlichkeit beschlossen, die darstel-
lende Kunst nur, wenn ihm eine grössere Freiheit gestattet
ist. Sie beginnt daher erst dann, wenn jene schon den
Keim des Verfalles in sich aufgenommen hat. Beide ge-
hören zwei auf einander folgenden Epochen des Volks-
lebens an; die eine der früheren, in welcher die Gemüther
vorzugsweise von den höchsten Dingen beschäftigt werden,
die andere der späteren, wo individuelle Verhältnisse grös-
seres Interesse in Anspruch nehmen.
In unserer Epoche erscheint dieser Gegensatz wie im
Leben so auch in der Kunst gemildert. Das christliche
Gesetz hat nicht die Sprödigkeit des natürlichen, die christ-
liche Freiheit löst das Gesetz nicht auf. Die ganze mäch-
tige Erhebung des Zeitalters ging von dem Freiheitsgefühl
der Völker aus , aber dies Gefühl war zugleich religiöse
Begeisterung, war von der Kirche selbst genährt und gab
ihr neue Belebung] Beide schritten einmüthig fort.
Ebenso auf künstlerischem Gebiete; die christliche Kunst
hat nicht eine einmalige Blüthe, sondern ist der Erneuerung
fähig; sie stellt der Architektur nicht die unerlassliche For-
derung reinster, architektonischer Gesetzlichkeit, sondern
gestattet ihr auch plastische und malerische Elemente in
reichem Maasse in sich aufzunehmen. Und von diesen
ging die ganze künstlerische Bewegung dieses Zeitraumes
aus. WVas die ruhige Würde des romanischen Styles
störte und ihm eine dccorative Tendenz aufnöthigte, war
eben die Regung des plastisch-malerischen Sinnes, aber
das Resultat dieser Gährung war nicht der Verfall, son-
dern eine höhere Blüthe der Architektur, ein neuer Styl,
der jenes hinzutretende Element in sich aufgenommen und
bewältigt hatte. Der gothische Styl ist von plastischen
und malerischen Motiven durchdrungen. Seine ganze Er-
scheinung, besonders die Wunderbar belebte Perspective