Ueberblick.
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eine so grosse Zahl glänzend ausgeführter Kathedralen
aufzeigen, wie das nördliche Frankreich auf kleinerem
Raume; zwar hat unsere Architektur nicht einen so scharf
ausgeprägten nationalen Charakter, nicht die verschwen-
derische Fülle zierlicher Details, wie die englische. Aber
sie übertrifft beide Länder in der Vielseitigkeit und Indi-
vidualität verschiedenartiger Leistungen. Selbst die fran-
zösische Schule, deren Energie und Consequenz wir die
Ausbildung des Systems verdanken, deren allgemein ver-
breiteter, man möchte sagen unfehlbarer feiner Geschmack
allen Werken der Zeit Ludwigls IX. ein so bestimmtes
Gepräge verleiht, bewegt sich doch in einem viel engeren
Gedankenkreise. Vergleichen wir nur den Kölner Dom,
der an Grossartigkeit der Conception und in gediegener
Ausführung mit den reichsten der französischen Kathe-
dralen wetteifert und sie übertrifft, mit der schlichten An-
muth der Elisabethkirche in Marburg, mit der ausgebil-
deten Hallenform der Kathedrale von Minden, mit der
strengen Backsteinarchitektur von Chorin, so haben wir
schon eine Fülle von verschiedenartigen, zum Theil der
deutschen Kunst ausschliesslich angehörigen und höchst
fruchtbaren Motiven. Namentlich ist die Mannigfaltigkeit
der Choranlagen bedeutsam; während man in Frankreich
an allen grösseren Bauten nur das freilich fruchtbare Thema
des Kapellenkranzes variirte, finden wir bei uns auch diese
Form, nicht bloss am Rhein, sondern selbst im entfernten
Üsten in Lübeck, daneben aber den blossen Umgang ohne
Kapellenkranz, wie am Dome izu Halberstadt, den ein-
fachen, aber durch die verwaltende Längenrichtung der
Vorlage und durch die lichte Höhe seiner schlanken Fen-
Ster wirksamen Polygonschluss, die kleeblattförrnige An-
Ordnung von Marburg, die anmuthige Verbindung ver-
schiedener Nischen wie in Xanten und Oppenheim, die