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Historische
Einleitung.
theoretischem Uebermuth oder aus symbolischen Rücksich-
ten; aber es konnte nur in einer Zeit entstehen, Welche
an künstliche Systeme gewöhnt war, welche auch in der
VVirklichkeit über die gemeine Natur hinwegsah, und sich
eine VVelt von Ansichten und Sitten erschuf, die auf
kühnen Voraussetzungen beruhete und durch künstliche
Mittel zusammengehalten wurde, und giebt einen höchst
merkwürdigen Beweis der schweigenden, aber mächtigen
Einwirkung, Welche die geistige Richtung der Zeit selbst
auf die statischen Grundlagen der Architektur ausübt.
Auf der Verbindung jener naturgemässcn Entwickelung
und dieser geistigen Richtung beruhet die Schönheit dieser
Architektur; sie löste eben durch ihr COllSi-PUCÜODSSYSC0111
die Aufgabe, das ideale Element als wirkliche Realität, als
schlichte Wahrheit darzustellen. Sie wurde dadurch geeig-
net, auch den feinsten Regungen des Zeitgeistes einen
Ausdruck zu verleihen, an seiner Weiteren Entfaltung Theil
zu nehmen, und auf sie zurückzuwirken. Sie giebt daher
das reichste und sprechendste Bild dieser edeln und inhalt-
reichen Zeit, und hat zugleich durch ihre innere Conse-
quenz und Vollendung eine hohe ästhetische Bedeutung für
alle Zeiten.
Die darstellenden Künste dieser Epoche stehennicht
auf gleicher Höhe; sie sind zu sehr auf das Detail der
Erscheinung angewiesen, welches in jener idealen Auffas-
sung nicht vollständig verstanden und durcharbeitet Werden
konnte. Aber sie haben doch ungefähr den Werth der
Poesie, mit der sie ja auch der Natur der Sache nach in
viel näherer Beziehung stehen, als die Architektur. Frei-
lich War der unmittelbare Einfluss der Dichtung nur ein
sehr geringer. WVenn Phidias seinen olympischen Zeus
nach den Versen Homers bildete, so konnten die ritter-
lichen Dichter sich höchstens schmeicheln, den Zeiclmer,