Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Entstehung und Ausbildung des gothischen Styls (Bd. 5 = [2], Bd. 3)

Architektur. 
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ihrer technischen Aufgabe vollauf zu thun hatten. Sie ver- 
fuhren zwar freier als die früheren geistlichen Baumeister, 
sie kamen nicht aus der Klosterschule, Waren nicht von 
den Traditionen der Antike beherrscht, liebten es, sich in 
neuen Erfindungen zu versuchen. Aber sie waren Empi- 
riker, die nicht luftigen Theorien folgten, sondern von der 
erlernten Form ausgingen, diese nur zu verbessern suchten 
und sich daher mit langsamen Schritten von ihr entfern- 
ten. Sie führten überdies selbst den Meissel, ihre Hand 
hatte sich mit dem Steine vertraut gemacht, ihm die For- 
men abgelernt, welche ihm am Natürlichsten Waren; sie 
dachten gleichsam im Geiste des Materials. Daher der 
unschätzbare Vorzug ihrer Arbeiten, dass sie nichts ver- 
hüllten, dass alle ihre Formen eine unmittelbare, natürliche 
Wahrheit hatten. Ueberdies gingen sie aus dem Volke 
hervor, und zwar aus einem Volke von noch sehr ein- 
fachen Sitten, das der Natur nahe stand und mit ihrer 
Weise der Production bekannt war; sie bildeten, daher ein 
so feines Gefühl für organische Entwickehmg der Form 
aus, wie es mit Ausnahme der Griechen kein anderes 
Volk gehabt hatte. Ihre Werke machen den Eindruck 
innerer N othwendigkeit , sie scheinen aus dem Boden zu 
wachsen, wie die Erzeugnisse der Natur selbst. Die Will- 
kür, welche in den Ritterdichtungeil herrscht und ihnen 
selbst einen Reiz verleihet, fand hier keine Stelle. 
Um so merkwürdiger ist es, dass diese schlichten Mei- 
ster das kühne und künstliche Constructionssystem des 
gothischen Styles erfanden, welches dem Steine statt der 
horizontalen Lagerung auf der Fläche des Erdbodens den 
Ausdruck aufstrebender Kraft verleihet, lllld so von den 
unmittelbaren Andeutungen der Natur weit abweicht. Al- 
lerdings lag diesem luftigen Systeme eine Weise Benutzung 
statischer Gesetze zum Grunde, und es entstand nicht aus
	        
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