Architektur.
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der Phantasie die Flügel, gab den Gefühlen vVorte und
dadurch ein berechtigtes Dasein, kräftigte und läuterte sie.
Aber freilich die höchste Aensserung ihrer Zeit konnte sie
dennoch nicht werden.
In ganz anderer, fast entgegengesetzter Stellung befand
sich die Architektur. Die Poesie War neu und ignorirte
die X70rhildung, Welche die in ihr ausgesprochenen Gefühle
und Gedanken unter der Ilerrschaft des traditionellen latei-
nischen
Elements erhalten hatten.
Die Baukunst hatte schon
eine Vergangenheit; der Styl der vorigen Epoche, wenn
auch auf traditionellen Grundlagen beruhend, war doch ein
Erzeugniss des Volksgeistes, der hier ein Mittel der Aeus-
serung gefunden hatte, während die Sprache ihm noch
versagt war. Auch die Architektur erfuhr zwar durch das
neue, selbstbewusste Erwachen der Nationalität einen mäch-
tigen Impuls, der aber doch nur eine Umgestaltung der
bisher gebrauchten Formen, nicht wie bei der National-
dichtung ein völlig neues, von den bisherigen Leistungen
unabhängiges Erzeugniss hervorbraehte. Der ganze Schatz
von Erfahrungen, welche bisher gemacht waren, die ganze
noch jetzt bestehende Kraft des lateinischen Elementes blieb
ihr nnverkürzt. Während die Poesie nur einem Stande
angehörte, während das religiöse Leben sie kaum berührte,
jedenfalls nicht mit seiner vollen Strömung durchtloss, stand
die Architektur im Dienste der Kirche, wurde aber durch
die Frische und Kraft der Nationalität, durch die Mitwir-
kung und Theilnahme aller Stände gefördert. In der v0-
rigen Epoche war auch sie von einem einzigen Stande
ausgegangen, aber doch von der Geistlichkeit, von dem
Stande, welchem alle Quellen des geistigen Lebens zuflos-
sen, der sich aus allen Klassen des Volkes ergänzte, der
nicht, wie die Ritterschaft, die anderen aussehloss. Diese
Beschränkung hörte jetzt auf. Seitdem das Selbstgefühl
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