Die
Dichtkunst.
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den Bildung, war eine Scheidung der Stände eingetreten,
Welche, so nothwendig und heilsam sie sein mochte, doch
die Einheit der Nationen brach. Es gab keinen Stand, Wel-
cher das ganze Volksthum poetisch vertreten konnte. Nicht
bloss das Volkslied musste sich, seiner Natur nach, in
bescheidenen Gränzen halten; auch die Ritter Waren Laien,
Welche die Geheimnisse der Kirche über sich sahen, denen
die höhere wissenschaftliche Bildung verschlossen war.
Jenes prophetische Element, welches der Nationalpoesie
ihre WVeihe giebt, war ihnen versagt. Sie hatten nicht
das Gefühl des ganzen Volkes, sondern nur das eines,
sich von demselben aussondernden Standes zu schildern,
und dieser Stand, obgleich der Nation auf der Bahn neuer
Gesittung voranschreitend, war vermöge seiner bevorzugten
Stellung auf eine künstliche, conventionelle Sitte, auf eine
Steigerung gewisser Gefühle über das natürliche Maass
hinaus angewiesen. Seine Dichter Waren daher auf diese
Rücksichten beschränkt, sie konnten nicht aus der Fülle
der menschlichen Natur schöpfen, nicht die Töne erscl1üt-
ternder Tragik anschlagen, sie fühlten sich nicht als die
Verkündiger ewiger allgemeiner, sondern bedingter, nur
für die augenblickliche Stellung ihres Standes gültiger
Wahrheiten. Sie hatten es mit idealen Zuständen zu thun,
die niemals volle Wirklichkeit erlangen konnten, deren
Schilderung nur einen Anreiz zu einem einseitigen Fort-
schritte geben sollte. Die Kraft lllld Gediegenheit der
grossen historischen, im Kampfe mit den tiefen Gegen-
sätzen des Lebens gereiften Charaktere, die Demuth der
klösterlichen Heiligen, der Ernst der Wissenschaft, die
Inbrunst einfacher Frömmigkeit, selbst die Innigkeit der
natürlichen Gefühle des Volkes fand in der ritterlichen
Dichtung keine Stelle. Sie giebt nicht die Urgeschichte
des Volkes, nicht die geheiligte Ueberlieferung; sie hat