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Historische
Einleitung.
Volksgedicht, das wie ein grosser Strom von der Ge-
sammtkraft des Volkes angeschwellt ruhig dahin fliesst, die
ursprünglichen Anschauungen von göttlichen und mensch-
lichen Dingen zusammenfasst und gestaltet, und so die
Quelle künftiger Entwickelung wird, eine llias und Odys-
see, konnten die neueren Nationen nicht hervorbringen.
Die romanischen Völker nicht, weil sie den Naturzustand,
aus Welchem allein solche Urdichtung hervorgehen kann,
gar nicht gehabt hatten, weil sie sich erst jetzt durch die
Mischung verschiedener Volksstämme zusanlmenschlos-
sen, wo die Einzelnen nicht mehr vollständig und natur-
kräftig mit dem Ganzen verwachsen waren. Die Deutschen
Waren zwar aus natürlicher Wurzel entsprossen und einigen
Stammes, aber dieser Stamm war durch das Christenthum
veredelt und ein neuer geworden, seine geistige W ieder-
geburt war von seiner natürlichen Entstehung dinch eine
weite Kluft gesondert. Zwar war es ein unschätzbarer
Vorzug, dass die deutsche Heldensage, nachdem sie drei
Jahrhunderte hindurch zurückgedrängt und übersehen, aber
nicht gänzlich untergegangen War, jetzt wieder belebt wer-
den tmd angestammte Gefühle und Anschauungen wieder
erwecken konnte. Aber volles Leben konnte sie doch nicht
Wieder gewinnen, das religiöse Element, das Lebensblut
der Sage war aus ihr gewichen, nur ihr Körper, so ehr-
würdig seine Züge sein mochten, konnte auferstehen. Das
Geschlecht, unter das sie zurückkehrte, War nicht an ihr
herangewachsen, hatte Gefühle und Bedürfnisse, die in ihr
keine Befriedigung fanden. In der That waren die Ur-
sachen, Welche das Entstehen einer wahren Nationalpoesie
hinderten, bei allen Völkern in gleichem MaaSSß Vürllandcrl.
Durch den Gegensatz des Göttlichen und Irdischen, der
Kirche und des natürlichen Lebens, in Folge der von oben
herunter sich senkenden, nicht von unten herauf Wachsen-