Die
Dichtkunst.
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Indessen war dies nur eine Ausnahme; im Ganzen blieb
die kunstmässige Ausbildung der Poesie auf die ritterlichen
Kreise beschränkt, hier aber erreichte sie auch gerade in-
nerhalb dieser Epoche ihre höchste Blüthe. Die Proven-
zalen, die einzigen, bei denen der Minnegcsang schon früher
erwacht war, hatten jetzt ihre drei grössten Dichter, die
drei Illustren, wie Dante sie nennt, Bertraild de Born,
Arnault Daniel und Girault de Borneil, die Sänger der
Waffen, der Liebe und der Tugend, wie er sie bezeich-
net Bei den Nordfranzosen bildete sich die erzählende
Dichtung aus; Chretien de Troyes und unzählige Andere
Wussten ihre Zuhörer durch den Vortrag mannigfaltiger,
phantastischer Sagen zu begeistern. Etwas später, nicht
ohne Anschluss an diese Vorgänger, aber mit unendlich
grösserer Gedankentiefe, Zartheit und Kraft, erhob sich
auch die deutsche Dichtung; der kurze Zeitraum von 1180
bis etwa 1220 umfasst, ausser einer grossen Zahl anderer
bekannter und unbekannter Sänger, die grossen Namen
des Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogel-
Weide und Gottfried von Strasburg, denen kein gleichzei-
tiger Dichter einer anderen Nation, kein deutscher bis auf
die neuere Blüthezeit unserer Poesie an die Seite zu stel-
len ist.
Allein so bedeutend die Werke dieser Dichter sind,
hatten sie dennoch für die weitere Entwickelung der gei-
stigen Bildung nur einen bedingten Werth. Ein wahrhaftes
Lateinischen schwerlich so verbreitet, dass jene Liebesgedichte, wenn
sie (wie Leroux de Lincy, Recueil de chants historiques, 1841, S. VI
annimmt] lateinisch gewesen wären, Abälard die Gunst der Frauen, von
denen Heloise im Allgemeinen spricht, verschafft haben könnten.
i") Dante, Vulg. eloqu. lib. II, cap. 2. Circa quae söla [arme-
rum probitatem, amoris ascensionem et directionem voluntatis] si
bene recolimus, illustres invenimus vnlgariter poetasse, seil. Beitra-
mum de Bornio arma, Arnoldum Daniclem amorem, Gerardnm de Bor-
neilo rectitudinem. Diez, Leben und Werke der Troubadours, S. 180.