Wirklichkeit
und
Kunst.
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Laien einwirkte. Diese Einfachheit der Sitte kam aber
wiederum den idealen Bestrebungen zu Statten, indem sie
die Gemüther von einer Menge kleinlicher Sorgen befreite.
Ueberblicken wir die ganze Gestaltung des Lebens, so
finden wir überall eine Fülle künstlerischer Motive. Die
Idealität der Ansichten und Vorsätze, die edle und külme
Sorglosigkeit um materielles Detail, die Festlust neben der
Einfachheit des häuslichen Lebens, das Wohlgefallen an
der Form und die Neigung zum Phantastischcn, alles Weist
auf einen künstlerischen Beruf hin. Selbst WO der tro-
ckenste Verstand herrscht, in der Scholastik, zeigt sich
dies künstlerische Element in dem Begnügexi an formeller
VVahrheit, in der Betonung der symmetrischen Gestalt der
Schlüsse. Wir Neueren neigen dahin, die Kunst nur als
das irnvollkommene Abbild des Lebens zu betrachten, von
dieser Epoche kann man lnngekehrt sagen, dass das Leben
nur ein unvollkommenes, in ungünstigem Stoffe ausge-
führtes Kunstwerk war.
Alles drängte daher zur Kunst hin, sie musste noth-
wendig als die höchste Spitze und Blüthe des Lebens un-
mittelbar aus demselben hervorgehen, den Versuch machen,
seine idealen 'l'endenzen in reinerem Stoffe zu vollkomme-
nerer Ausführung zu bringen.
Vor Allem gilt dies von der Poesie, die ja in allen
Zeitaltern dem Leben näher steht, als die anderen Künste,
und daher bei naturgemässer Entwickelung den Reigen der
Künste zu eröffnen pflegt. Die sich stets und auch hier
Wiederholende Erscheinung, dass die Literatur der Völker
nicht mit der Prosa, sondern in dichterischer Form beginnt,
beruht theils darauf, dass in dieser Jugendzeit die Völker
mehr Empfindwlgen als Gedanken, mehr Begeisterung als
Kritik haben, theils aber auch darauf, dass die Bedeutung
und innere Schönheit der Sprache, dies grosse, in spä-