Lebenslust
und
Ascetik.
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welche alles auf die Spitze trieb; die Verbindung des scho-
lastischen Elements abstracter Consequenz mit der Jugend-
kraft der Völker erzeugte die Neigung und den Muth, jede
Anlage und Richtung einseitig imd schroff auszubilden.
Es entsteht dadurch eine plastische Anschaulichkeit der
Charaktere und eine Mannigfaltigkeit der Gestaltungen,
welche der Geschichte den höchsten Reiz verleihet.
Nicht bloss unter den hervorragenden Gestalten, sondern
in allen Kreisen des Volks standen die schärfsten Gegen-
sätze im Ganzen Wie im Einzelnen neben einander. Das
Leben schmückte sich mit der sinnlichsten Farbenpracht,
alle Stände wetteiferten in rauschenden Genüssen. Kampfes-
lust und Minnedienst erhielten die ritterlichen Kreise in be-
ständiger Bewegung, Unternehmungsgeist, Kraftgefühl und
Reichthlmi trieben die Städter an, mit ihnen zu wetteifern
und sie im üppigen Genusse zu überbieten. Selbst das
Landvolk feierte seine Feste mit rauschender Musik und
Reigentänzen, beim Becher und in derben Gelagen, und
die Weltgeistlichkeit, im Besitze reicher Pfründen, in ste-
ter Berührung mit allen Klassen des Volks, konnte oft
den Lockungen der Sinnlichkeit nicht widerstehen und gab
dem strengeren Beobachter vielfaches Aergerniss. Daneben
stand aber auch die klösterliche Ascetik in vollster Blüthe;
der strenge Orden der Cistercienser verbreitete sich mit
unglaublicher Schnelligkeit, zahllose Jünger strömten zu
den einsamen Thälern, in denen seine Klöster aufstiegen,
und wetteiferten in Entsagung und Kasteiung; Bussprediger
durchzogen die Städte, Einsiedler tlohen aus dem geräusch-
vollen 'l'reiben in Berge und Einöden, zarte Frauen büss-
ten ihre Sünden in härtester Abtödtung. Und dieselben
Ursachen, Welche den Charakteren jene Entschiedenheit
gaben, bewirkten auch plötzliche Bekehrungen und Ueber-
gänge; ein Augenblick, ein flüchtiges Wort, ein Gleich-