Historische
Einleitung.
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hinein, behandeln sie in einem höhern symbolischen Sinne.
Französische Courtoisie erscheint zuweilen mit der Ueber-
treibung des Copisten, aber im Ganzen zeigt der Minne-
gesang eine höhere Innigkeit und Feinheit des Gefühls,
und oft dient er dazu, ernsten und tiefsinnigen Betrach-
tungen poetischen Ausdruck zu leihen. Diese tieferen Ge-
danken und Gefühle konnten aber nicht in dem Grade Ge-
meingut werden, wie jene äusserliche Aulfassmlg. Sie
waren noch nicht durch das Element allgemeiner Bildung
durchgegangen, trugen ein höchst individuelles Gepräge
und erregten den Widerspruch. Es wurde dem Einzelnen
Gewissenssaehe, seine iunerste Ueberzeugung nicht bloss
nicht zu verleugnen, sondern möglichst genau und gründ-
lich auszusprechen. Während daher Franzosen und Eng-
länder gemeinsame Formen, gleiche Gedanken und Aeusse-
rungen annahmeu, herrschte in Deutschland die grösste
Mannigfaltigkeit.
Diese Richtung des deutschen Wesens prägte sich denn
auch in der Architektur aus. Auch in ihr fehlte es an
einer centralen Gegend, welche die Erfahrungen der anderen
sich aneignen und mit einander verschmelzen konnte. Auch
hier herrschte der Individualismus und die Richtung auf
das Einzelne; statt gemeinsamer, organisirender Bestrebun-
gen, Welche zu einem durchgreifenden neuen Systeme ge-
fuhrt hätten, sehen wir vielfache vereinzelte und auf das
Einzehie gerichtete Versuche, die Wohl eine grosse Mannig-
faltigkeit der Formen aber kein Ganzes hervorbringen
konnten.
Zu diesem Negativen kam noch ein positiver Umstand,
eine grosse entschiedene Anhänglichkeit an die romanische
Form, welche es verursachte, dass man sich ungern von
ihr trennte, und auch da WO man Verbesserungen Raum
gab, so viel wie möglich von ihr zu retten suchte. Man