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Deutschland.
in Frankreich Paris schon jetzt in wissenschaftlicher Be-
ziehung die entscheidende Stimme hatte, Während hier und
in England der Hof der Könige mehr und mehr eine ton-
angebende Bedeutung erlangte, während das französische
Ritterthum eine Gleichmässigkeit der Sitte hervorbrachte,
entbehrte Deutschland jedes Centralpimktes, sonderten sich
die Provinzen in ihren Gewohnheiten und Lebensansichten,
gab diese Mannigfaltigkeit ohne höhere Einheit schon jetzt
bald ein behagliches Festhalten an localen Formen, bald
ein Willkürliches Auflehnen der Einzelnen gegen eine Sitte,
die ihnen nicht imponirte. Auch erkannten die Deutschen
die neuerlangten Vorzüge ihrer westlichen Nachbarn in
vollem Maasse an. Alle, welche höheren Wissenschaft-
lichen Beruf zu haben glaubten, Geistliche, die Söhne
edler, selbst fürstlicher Häuser wanderten nach Paris, um
dort aus der Quelle der neuen Weisheit zu schöpfen; die
deutsche Ritterschaft suchte sich die damals in Frankreich
ausgebildete Eleganz und Courtoisie anzueignen; Kaiser
Friedrich I. , der selbst als Vorbild eines deutschen Cha-
rakters betrachtet werden kann, stellte in provenzalischen
Versen, die uns erhalten sind, geradezu den französischen
Ritter als das Ideal der Ritterschaft auf. Allein so gern
man wollte, konnte man diesen fremden Vorbildern den-
noch nicht unbedingt nachkommen. Die Mannigfaltigkeit
der Verhältnisse, die freie Bewegung der Geister, welche
der fast anarchische Zustand gestattete, hatten die Neigimg
zu tieferem, mystischen Denken, zu innigerem, schwärme-
rischen Fühlen, die im deutschen Charakter liegt, stärker
angeregt, und diese Neigung machte sich jetzt den frem-
den, hier völlig conventionellen Formen gegenüber geltend.
Die deutschen Dichter brauchen französische Namen und
Phrasen, sie entlehnen ihre Stoffe aus französischen Dich-
tungen, aber sie legen ihre eigenen tiefen Gedanken