Volltext: Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter: Entstehung und Ausbildung des gothischen Styls (Bd. 5 = [2], Bd. 3)

Allgemeine 
Charakteristik. 
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Der Gegensatz dieses neuenglischen Styls gegen den 
unmittelbar vorhergegangenen normannischen ist überaus 
merkwürdig. Die Geschichte giebt kaum ein zweites Bei- 
spiel eines so schroffen Geschmackwechsels. Dort alles 
kraftstrotzend, plump, schwer, hier eine Vorliebe für 
schlanke, dünne, zierliche Formen. Aber bei diesem au- 
genscheinlichen Contraste liegt beiden Stylen doch eine 
innere Einheit, dieselbe Auffassung des Architektonischen 
zum Grunde; sie muss vorhanden sein, da ohne sie die 
grosse Entschiedenheit und Uebereinstimmilng, mit der sich 
die Nation dem neuen Style zuwendete, unerklärbar sein 
würde, und man fühlt sie auch sehr bald. Sie liegt in 
der verständigen Richtung des englischen Volks, vermöge 
welcher die Begriffe des Nützlichen und des Schönen, deren 
innige Durchdringung gerade die Aufgabe der Architektur 
bildet, scharf auseinander gehalten werden, wonach jenes 
der Verfasser S. 92, „wenn nicht, dass unsere englischen Herzen mehr 
Eichenholz als Stein in sich haben und mehr wahre Sympathie mit 
Eicheln als mit Alpen empfinden, aber Alles, was wir machen, ist 
klein und schwächlich, wenn nicht schlechter; dünn, verschwendet und 
ohne wahren Körper. Das gilt nicht von modernen Werken allein; seit 
dem dreizehnten Jahrhundert haben wir (mit alleiniger Ausnahme un- 
serer Schlösser] wie Frösche und Mäuse gebaut. Welcher Contrast 
zwischen den erbärmlichen kleinen Taubenlöchern, welche als Thüren 
an der Fronte von Salisbury stehen und die wie Eingänge zu einem 
Bienenstock oder Wespennest aussehen, und den hoch geschwungenen, 
königlich bekrönten Portalen von Abbeville  Rouen und Rheims, 
oder den wie in Felsen gehauenen Pfeilern von Chartres." Er geht 
dann auf die häusliche Architektur über. "Welch ein sonderbares Ge- 
fühl von formulirter Hässlichkeit, runzeliger Präcision, frostiger Ge- 
nauigkeit, menschenfeindlicher Kleinlichkeit haben wir, wenn wir aus 
den dunkeln btrassen der Picardie in die Marktplätze von Kent kom- 
man." In der That ist der Gontrast zwischen den kräftigen Farben 
und Formen der nordfranzösischen Städte und der nüchternen Zierlich- 
keit und Reinlichkeit, die wir jenseits des rasch durchfahrenen Kanals 
finden, höchst überraschend und charakteristisch für den Gegensatz der 
Nationen oder, allgemeiner gefasst, für den Gegensatz zwischen dem 
continentalen Lande und dem seefahrenden Inselvolke.
	        
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