Allgemeine
Charakteristik.
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Der Gegensatz dieses neuenglischen Styls gegen den
unmittelbar vorhergegangenen normannischen ist überaus
merkwürdig. Die Geschichte giebt kaum ein zweites Bei-
spiel eines so schroffen Geschmackwechsels. Dort alles
kraftstrotzend, plump, schwer, hier eine Vorliebe für
schlanke, dünne, zierliche Formen. Aber bei diesem au-
genscheinlichen Contraste liegt beiden Stylen doch eine
innere Einheit, dieselbe Auffassung des Architektonischen
zum Grunde; sie muss vorhanden sein, da ohne sie die
grosse Entschiedenheit und Uebereinstimmilng, mit der sich
die Nation dem neuen Style zuwendete, unerklärbar sein
würde, und man fühlt sie auch sehr bald. Sie liegt in
der verständigen Richtung des englischen Volks, vermöge
welcher die Begriffe des Nützlichen und des Schönen, deren
innige Durchdringung gerade die Aufgabe der Architektur
bildet, scharf auseinander gehalten werden, wonach jenes
der Verfasser S. 92, „wenn nicht, dass unsere englischen Herzen mehr
Eichenholz als Stein in sich haben und mehr wahre Sympathie mit
Eicheln als mit Alpen empfinden, aber Alles, was wir machen, ist
klein und schwächlich, wenn nicht schlechter; dünn, verschwendet und
ohne wahren Körper. Das gilt nicht von modernen Werken allein; seit
dem dreizehnten Jahrhundert haben wir (mit alleiniger Ausnahme un-
serer Schlösser] wie Frösche und Mäuse gebaut. Welcher Contrast
zwischen den erbärmlichen kleinen Taubenlöchern, welche als Thüren
an der Fronte von Salisbury stehen und die wie Eingänge zu einem
Bienenstock oder Wespennest aussehen, und den hoch geschwungenen,
königlich bekrönten Portalen von Abbeville Rouen und Rheims,
oder den wie in Felsen gehauenen Pfeilern von Chartres." Er geht
dann auf die häusliche Architektur über. "Welch ein sonderbares Ge-
fühl von formulirter Hässlichkeit, runzeliger Präcision, frostiger Ge-
nauigkeit, menschenfeindlicher Kleinlichkeit haben wir, wenn wir aus
den dunkeln btrassen der Picardie in die Marktplätze von Kent kom-
man." In der That ist der Gontrast zwischen den kräftigen Farben
und Formen der nordfranzösischen Städte und der nüchternen Zierlich-
keit und Reinlichkeit, die wir jenseits des rasch durchfahrenen Kanals
finden, höchst überraschend und charakteristisch für den Gegensatz der
Nationen oder, allgemeiner gefasst, für den Gegensatz zwischen dem
continentalen Lande und dem seefahrenden Inselvolke.