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Der
frühenglische
Styl.
Function entzogen, und ihnen eine ritten-lieh kühne oder
sentimentale mid Weiche Haltung gaben. Sie begannen
damit, den Pfeiler in eine Fülle von schlanken Säulen, die
früher eckig gebildete Archivolte in feine Rundstäbe auf-
zulösen, sie gaben dem Kapitäle einen schlankeren Hals
und liessen das Blattwerk wie Weiche Mädchenhaare herab-
fallen. Sie benutzten die Triforien zu einem pikanten illu-
sorischen Spiele und gefielen sich in dem scheinbaren
Wagniss, starke Mauern auf vereinzelte schlanke Stützen
zu stellen. Diese decorative Richtung unterdrückte den
Sinn für organische Durchbildung und für die Betonung
der constructiven Elemente, lehrte das Ornament nach
willkürlichen Nebenabsichten bilden, und entzog dem Gan-
zen den ernsten, constructiven Charakter. Das Vertical-
princip, auf welches die ganze Anlage, die Strebepfeiler
und Kreuzgewölbe, selbst die beliebten Lancetfenster hin-
weisen, ist nicht empfunden, die I-lorizontallinieil herrschen
ausschliesslich, die constructiven Glieder sind entweder als
Nebensache behandelt, oder zu einem gleichgültigen For-
menspiel gemissbraucht. Daher fehlt selbst den Ornamen-
ten, so viel an ihnen gekünstelt ist, der feinere Ausdruck;
die Prolilirung der bedeutsamen Curven ist roh oder tro-
cken. Daher auch der Mangel an wahrer Individualität,
der dem Beschauer an den englischen Gebäuden auffällt.
Während jedes französische Bauwerk dieser Epoche, un-
geachtet der principiellen Uebereinstimmung, stets Neues
und Anziehendes bietet, sind die englischen Kirchen, un-
geachtet der mannigfachen oft gesuchten Aenderungen und
der zierlichen Details, ermüdend und einförmig k).
1') Wie stark selbst Engländer die Mängel ihrer einheimischen
Architektur empfinden, ergiebt ausser dem schon erwähnten älteren
Buche von Whittington die neuere, in vieler Beziehung interessante,
wenn auch oft bizarre Schrift von John Ruskin, Seven Lamps of
Architecture, London 1849. „Ich weiss nicht, woran es liegt," sagt