Ritterliche
Sitte.
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conventionelle Lüge angelernter Formen, der geregelte,
kalte Egoismus, den die Civilisation begünstigt, kamen
noch nicht auf; das WVort entsprang noch aus dem Herzen,
wenn nicht aus der tiefsten" bleibenden Wahrheit, doch aus
der Stimmung des Moments. Liebe und Hass, Bestän-
digkeit und Wankelmuth, Kraft und Milde traten, Wo sie
vorhanden waren, unverkennbar ans Licht. Selbst die tra-
gischen Ereignisse, zu Welchen die leidenschaftlichen Ver-
irrungen führten, dienten dazu, die Tiefen der menschlichen
Natur zu erschliessen und das Mitgefühl wach zu erhalten.
Es herrschte eine poetische Stimmung, Welche den Wirk-
lichen Ereignissen für die Mitlebenden, wie für uns Eilt-
fernte, den Reiz der Dichtung verlieh.
In anderen Zeiten stehen die poetischen Elemente in
einem Gegensatze zu den Regeln gesetzlicher Ordnung,
oder suchen sich doch ihnen zu entziehen. Hier dienten
gerade die Institute höherer Gesittung zur Entwickelung
des poetischen Sinnes. Das Ritterthum, ungeachtet seiner
aristokratischen Absonderung von den unter ihm stehenden
Ständen, gab doch Wieder Motive, welche die Unterschiede
aufheben oder ausgliehen. Es beruhete seinem Gedanken
nach auf einer Erhebung über äusserliche Rücksiehten.
Macht, Reichthum und alle Gaben des Glückes sollten mo-
ralischen Vorzügen nachstellen, ein gemeinsames Band des
Gelübdes verschiedene Stufen des Ranges umfassen. Die
Fürsten, die über Land und Leute geboten, die Besitzer
ausgedehnter Güter gehörten mit den vermögenslosen Söh-
nen ritterbürtiger Häuser, welche Dienste suchend umher-
zogen, zu demselben Stande, erkannten sich als gleichbe-
rechtigt mit ihnen an, hatten wenigstens gleiche PHichten.
In Beziehung auf diese war sogar der Arme im Vortheil;
der Fürst, den politische Verhältnisse banden, der reiche
Erbe, der seine Güter zu bewahren und zu vermehren be-