Kirchliche
Verhältnisse.
schaft ein folgenschweres Ereigniss. Es lag in ihr eine
unbewusste Protestation gegen die unbedingte Herrschaft
der 'l'radition; man wollte den Glauben erobern, ihn nicht
mehr in der Form des Buchstabens, sondern mit innerem
Verständnisse besitzen. Der Eifer, mit welchem die Schüler
den Hörsälen zuströmten, beweist, (lass man die Wissen-
schaft in diesem Sinne aulfasste, dass diesem geistigen
Streben ein Bedürfniss des Gefühls zum Grunde lag. In
der That War die Frömmigkeit zwar nicht eine geringere,
aber wohl eine andere geworden, als in der vorigen Epoche.
Sie begnügte sich nicht mehr mit blinder Unterwerfung
unter das Gesetz der Kirche, sie war inbriinstiger, selbst-
thätiger, trat in wärmeren, persönlichen Aeussernngen
hervor, strebte sich dem Heiligen zu nähern. Sie blieb
wundergläubig und winidersüchtig, aber sie verlangte
VVunder anderer Art, bcgreiflichere und anmuthigere.
Phantasie und Poesie drangen mehr in die Gebiete des
Glaubens ein; die Vergangenheit trat zurück, die Sage
schloss sich an die Gegenwart an. Die Kirche musste
dieser schwärmerischen Erregung nachgeben, ihre Glieder
Waren selbst davon ergriffen; sie musste subjectivere Aeus-
serungen der Frömmigkeit gestatten, sich ihnen anbeque-
men, neuen Anforderungen genügen, anderen Heiligen den
Vorrang einräumen. Der Mariencultus, freilich schon seit
Jahrhunderten in steigender Bedeutung, wurde immer mehr
vorherrschend, man dachte sich die Mutter Gottes doch
fast in der Weise einer edeln ritterlichen Frau, milde und
nachsichtig, fern von der unerbittlichen Strenge der älteren
Kirche, auch weltlichen Empfindungen, die nicht ohne Ei-
telkeit und Sünde sein konnten, schonende Berücksichti-
gung gewährend Die ritterlichen Heiligen erhielten
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sondern
Wie sehr diese Auifassung nicht bloss in ritterlichen Kreisen,
selbst im Kloster herrschte, beweisen die überhaupt höchst